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Die Entdeckung der Hinterseiten

■ Stadtentwicklungs-Senator will die Innenstadt vergrößern / Seitenstraßen sollen attraktiv werden

Zehn Meter abseits der teuersten Geschäftslage Deutschlands stehen große Müllcontainer auf dem Fußweg herum. Dem Passanten bläst stickige Abluft von Kaufhaus-Klimaanlagen ins Gesicht, Autos parken kreuz und quer zwischen verrosteten Absperrpollern. Die Erdgeschosse präsentieren sich statt mit Schaufenstern und beleuchteten Speisekarten mit schweren Rolltoren und zerkratzten Betonplatten. Von zugemauerten Kellereingängen bröckelt der Putz.

Wir befinden uns mitten in Bremens Innenstadt. Das urbane Leben beschränkt sich dort ausschließlich auf die L-förmige Fußgängerzone zwischen Herdentor und Brill. Auf dieser wenige hundert Meter langen Strecke durch Söge- und Langenstraße haben die Quadratmeter-Preise inzwischen Düsseldorfer Niveau überschritten, denn attraktive Ausweichmöglichkeiten gibt es für Innenstadthändler nicht. Die fatale Folge: Immer weniger qualifizierte Fachgeschäfte können sich halten, Filialisten mit Einheitsangebot breiten sich aus, und die drei Innenstadt-Kaufhäuser machen allein 50 Prozent des Umsatzes.

Kein Wunder das mit einer solchen Struktur die Attraktivität der Bremer Innenstadt immer

Innenstadtidylle hinter Bremens teuerster MeileFoto: Nicolai Wolff

weiter abnimmt. Wurde 1968 dort noch 34 Prozent des Einzelhandelsumsatzes gemacht, sind es heute nur noch 22 Prozent. Immer mehr Umlandbewohner aber auch BremerInnen fahren zum Einkaufen lieber nach Oldenburg oder Syke.

„Die Innenstadt muß wieder ein Anziehungspunkt werden, ein Ort des spontanen Erlebens, der Auseinandersetzung mit Ver

trautem wie Ungewöhnlichem“, fordert denn auch Stadtentwicklungssenator Ralf Fücks. Gestern erläuterte er auf einem Spaziergang, daß es dafür auch keineswegs schlechte Voraussetzungen gibt, schließlich hat Bremens Innenstadt trotz Kriegsschäden und Bausünden der 60er Jahre noch immer einen erkennbaren historischen Stadtgrundriß und allerhand reizvolle Architektur. Doch

kaum jemand verirrt sich bisher in die Seiten- und Nebenstraßen abseits des Söge-Langenstraßen- Korsos.

Der Grund dafür: Statt einer ausgedehnten Fußgängerzone mit Rund- und Nebenwegen wie zum Beispiel in Oldenburg herrscht in Bremen schon fünf Meter abseits der Hauptroute tiefste Hinterhofatmosphäre. Langenstraße, Ansgaritor- und Herdentorswall dienen ausschließlich dem Lieferverkehr der Läden an der Hauptachse. Und Plätze wie zum Beispiel der Jakobikirchhof hinter Brinkmann, der Bredenplatz gegenüber der Martinikirche oder die Freifläche an der Museumsstraße sind nichts als häßliche Abstellflächen für bunte Blechkisten auf Rädern.

„Aus solchen Hinterhöfen müßten wieder Innenhöfe, aus den Laden-Rückseiten müßten Vorderseiten werden“, meint Fücks. Und, ganz besonders wichtig: „Die Schneisen Brill und Martinistraße sollen geöffnet werden.“ Die Menschen müssen „aus dem Maulwurfstunnel unter dem Brill“ befreit werden, damit die Faulenstraße wieder zu dem „Einkaufsboulevard“ werden kann, der sie vor dem Krieg einmal war. Der Durchgangsverkehr muß endlich raus aus der Martinistraße, um die Innenstadt mit der neugestalteten Schlachte, der Weser, dem Teerhof und der vorderen Neustadt zu verbinden. Noch sind Stadt und Fluß durch donnernden Autoverkehr getrennt.

Dort ist nämlich inzwischen völlig unbemerkt von der Bevölkerung zwischen Künstlerhaus am Deich über Theater am Leibnizplatz bis zur Städtischen Galerie im Buntentor eine neue „Kulturmeile“ entstanden. Begleitet wird sie von einem Fuß- und Radweg, der demnächst durchgehend vom Werdersee bis zum Schulschiff Deutschland direkt an der Weser ohne eine einzige Straßenkreuzung zum Spaziergang einlädt.

Tatsächlich ist die Öffnung und Erweiterung der Innenstadt schon in Gang. Der fußgängerfreundliche Umbau der Langenstraße hat begonnen und an der Schlachte ist ein sieben Meter breiter Boulevard fast fertiggestellt. Im Erdgeschoß mehrerer Häuser sollen dort im nächsten Sommer Restaurants und Cafes öffnen, die ihre Tische und Stühle bei gutem Wetter bis an die Kaimauer über der Weser vorrücken können. Per Teerhofbrücke ist die Schlachte direkt an die Neustadt herangerückt und soll demnächst auch mit einem neuen Durchgang direkt mit Martini- und Pieperstraße verbunden werden.

Noch findet die Erweiterung der Innenstadt vor allem auf dem schmalen Platz zwischen Baulücken und Baggern statt. Doch schon erste zaghafte Versuche beweisen, wie begierig die Bremer Bevölkerung neue Routen abseits von Söge- und Obernstraße annimmt. Kurz nachdem zum Beispiel Harms am Wall auch einen Hinterausgang geöffnet hatte, „kam plötzlich 30 Prozent der Kundschaft hinten rein“, erinnert sich Geschäftsführer Herbert Korthe. „Hinten“ ist hier nämlich eigentlich vorne: gerade mal fünfzig Schritte von der Bus- und Straßenbahnhaltestelle Violenstraße entfernt.

Bis Anfang 1994 will der Senat entscheiden, an welchen Stellen mit der Öffnung der Hinterseiten der Bremer Innenstadt jetzt ernsthaft begonnen werden soll. Geld jedenfalls steht dafür aus den Milliardenhilfe des Bundes zur Verbesserung der Bremer Wirtschaftsstruktur reichlich zur Verfügung. Dirk Asendorpf

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