: Die Auto-Apo macht mobil
Das Trauerspiel um die Verkehrspolitik: Wie bornierte Krämerseelen eine Stadt knebeln wollen und Politik zu machen versuchen. Und wie Rot-Grün es mit sich machen läßt ■ Aus Aachen Bernd Müllender
„Es wird der Tag kommen“, hat Aachens grüner Ratsherr Michael Rau einmal gesagt, „da macht man die fußgängerfreundliche Innenstadt auch noch für das schlechte Aachener Wetter verantwortlich.“ Jetzt scheint es soweit zu sein: Die Aachener Geschäftsleute schimpfen, zetern, jammern, fluchen, als sei der Jüngste Tag gekommen.
Die fußgängerfreundliche Innenstadt, ein Projekt der rot-grünen Ratsmehrheit, gibt es in Aachen seit Oktober 1991. Samstags zwischen 10 und 15 Uhr darf das Innere der City nicht mehr mit Privat-Pkw befahren werden. Ein bundesweit beachtetes Pilotprojekt.
Ortsbesichtigung am Sperrgitter: „Durchfahrt verboten“ bedeutet der rote Kreis auf weißem Grund. Ausnahmen nur für Fahrräder, Busse, Taxen, Anwohner mit Parkausweis, Inhaber von Behindertenausweisen und Notdienste. Eigentlich eindeutig: Und dennoch kommen immer wieder welche angerollt in ihren Blechkisten. „Ich muß doch nur mal eben...“, „Meine gebrechliche Großmutter...“, „Gerade da drüben die Sachen abholen...“, „Pizzaservice – das wird doch kalt...“ Die beiden Aufpasser beim Sperrschild (im Jargon: Schleusenwärter) sind unerbittlich. Doch nicht alle sind einsichtig. Ein Motorradfahrer tobt („Isch klag Eusch an, dat iss Freiheitsberaubung...“) und dreht ab mit heulendem Motor. Bald folgt ein smarter Geschäftsmann im BMW, der, nach langer erfolgloser Debatte, erst mit quietschenden Reifen seinen Kommentar gibt und nach der Pirouette als Argumentersatz den erigierten Mittelfinger zeigt. Dabeizustehen und den Jammernden und Schimpfenden zuzuhören ist wie gutes Kino, von hohem Unterhaltungswert.
Helmut (28), Sozialarbeiter und Frank (21), Zivildienstleistender, machen für 16,60 Mark die Stunde die Schleusenwärter. „Bei manchen Autofahrern“, sagt Helmut, „habe ich schon ernsthaft Angst gehabt, daß sie mich umfahren. Manche werden richtig wild, wenn sie ihren Fahrfluß unterbrechen müssen, wenn ihr geliebtes Auto sie nicht mehr überall hinbringt.“
Das Sperrpersonal entdeckte schon schlecht kopierte Farbvignetten und falsche Anwohnerparkausweise. Unerklärlich erscheint es Helmut, wo plötzlich all die Schwerbehindertenausweise herkommen. Versuchte Tricks ohne Ende. Etwa 20 bis 30 Fahrzeuge (der Spitzenwert lag über 50) fahren pro Samstag trotzdem durch, allein an dieser einen Sperre. Sie werden notiert und später mit 20 bis 40 Mark zur Kasse gebeten – ein lächerlicher Betrag für so manche Portokasse. Auch das Straßenverkehrsamt weiß, daß selbst 40 Mark bei Vorsatz „im Interesse der fußgängerfreundlichen Regelung deutlich zu wenig“ sei. Nur lasse das Ordnungswidrigkeitengesetz – „leider“ – halt nicht mehr zu.
Trotz dieser Unbelehrbaren: Aachens Bürger und Bürgerinnen, so sie nicht automan sind, haben sich längst daran gewöhnt. Man kommt per Fahrrad und Bus oder läßt den Wagen vor der Stadt. Alle genießen das Flanieren entlang der Straßen, wo sonst stinkende Kolonnen sich durchquälen. Diverse wissenschaftliche Begleituntersuchungen und umfangreiche Besucherbefragungen ergeben: 95 bis 98 Prozent fühlen sich gut informiert, über 80 Prozent der Leute finden das Projekt gut oder sehr gut. Die Umweltbelastung ist deutlich zurückgegangen – das kann man riechen und hören, das kann man auch messen: Kohlenmonoxid und Schwefeldioxid um rund die Hälfte, Benzol stellenweise gar bis auf ein Zwölftel, Lärm: minus sechs Dezibel. Es fahren Sonderbusse (Sonderpreis: fünf Personen für fünf Mark stadtweit), die Bundesbahn bietet für Besucher aus dem Umland Tickets so billig, daß sie die Druckkosten kaum lohnen. Alle sind zufrieden.
Alle? Nein, eine kleine radikale Minderheit hat immer rebelliert: die Einzelhändler. Besser gesagt: Die Hardliner unter ihnen. Sie sehen sich im rot-grünen Chaos, schimpfen und klagen ohne Unterlaß: Die Kunden könnten ihre Käufe nicht mehr schleppen, heißt es – wobei indes merkwürdig unklar bleibt, warum man für das neue Silberarmband oder T-Shirt einen Lieferwagen braucht. Schnell nannten die Händler Umsatzeinbußen von 50, manche 60, andere sogar 80 Prozent. Zahlen, die indes niemand je belegte. Denn in die Bücher lassen sich die Krämerseelen natürlich nicht sehen. Und selbst wenn sie es täten: Papier gilt auch in der Variante Bilanzen als äußerst geduldig.
Eine Untersuchung der Industrie- und Handelskammer brachte Anfang dieses Jahres ganz andere Zahlen: Der durchschnittliche Umsatzverlust (laut ungeprüft eigener Daten zudem) lag bei 2,4 Prozent. An Samstagen. Eingestehen mußten die Kaufleute, daß die anderen Tage (verkaufslanger Donnerstag) alles wieder ausglichen. Unterm Strich kam sogar ein Plus von 0,27 Prozent heraus. Und es zeigte sich, daß nur ein sehr kleiner Teil der Firmen ausdrücklich gegen die fußgängerfreundliche Innenstadt war.
Das Thema schien erledigt. Gut ein halbes Jahr lang war Ruhe. Doch dann, in diesem Herbst, ging alles wieder von vorne los. Und energischer als je zuvor.
Eine Gruppe von Geschäftsleuten, unter Führung eines Herrenausstatters, rief im September auf zur Gründung des „Vereins der Gewerbetreibenden“. Der Einzelhandelsverband (EHV) ist dem neuen Verein „zu weich“, er vertrete als Bezirksverband auch umliegende Gemeinden, die doch angeblich profitieren von Kunden, die die Aachener Verkehrsberuhigung abschrecke. Die Argumente: „Aachen muß Einkaufszentrum bleiben. Stadt soll Stadt bleiben, nicht Fahrradparadies.“ Das „rot- grüne Verkehrschaos“ müsse endlich beendet werden. Intern gab es schon Überlegungen zur Selbsthilfe: Einfach ausschwärmen und die Samstagsbarrikaden beiseite räumen. Ein Vorständler, Inhaber eines Reitsportgeschäfts, nennt die fußgängerfreundliche Innenstadt „eine Holzhammermethode“. Und weiter: „Der Verkehr muß fließen. Überdimensionierte Fahrradwege hätten es schmaler auch getan. Die Staus in Aachen sind alle künstlich gemacht. Die Sperrungen verlagern Staus und Umweltbelastungen nur woanders hin. Daß die grüne Welle in Aachen abgeschafft wurde, ist ein starkes Stück. Nirgends kommt man mehr durch.“
Solch unbelehrbare Leute sind es, über die Schleusenwärter Frank immer wieder staunt: „Allein wie viele Ärzte samstags im Einsatz sind, gerne mit der ganzen Familie im Wagen.“ Einer habe mal kühl geantwortet, er sei sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden im Einsatz und samstags in der Aachener Innenstadt ganz besonders. „Und dann gibt es da noch die Frauen, die so schön mit den Augen rollen“, sagt Frank, „da sehe ich sowieso gleich rot, so was Peinliches.“ Einmal habe sich eine weibliche Schönheit („ich konnte das genau beobachten“), sogar ein Stück vor dem Sperrschild zwei Knöpfe ihrer Bluse aufgemacht und dann tiefdekolletiert und vornübergebeugt ihre Chancen augenklimpernd zu verbessern versucht. „Lächerlich!“
Der Einzelhandelsverband versuchte es jetzt formaljuristisch und legte ein „Gutachten“ vor (angekündigt mit: „Heute platzt eine Bombe!“), wonach die Cityberuhigung schlichtweg rechtswidrig sei. Oberstadtdirektor Berger möge umgehend einschreiten und die Samstagssperren einmotten. Der jedoch, immerhin CDU-Mann, dachte gar nicht daran. Regierungspräsident Antwerpes (SPD), der sich selbst als „Paten“ des Projekts bezeichnet, erkannte „eine Vorverlegung des Karnevals“ durch „einen ideologisch verklemmten Verband“.
Alles werde gut, sagen die Kritiker, wenn Auto-Normalgebraucher endlich wieder vorfahren kann, wo er will. Das Projekt, sagen die Schimpfenden, sei schlecht verkauft, zu wenig Werbung gemacht worden. Es sei den Menschen im Umland nicht erklärt worden. Die glaubten doch, die Stadt sei total gesperrt, ein Einkaufen sei quasi unmöglich. In dreifacher Hinsicht ist dieser Gedankengang schwer nachzuvollziehen. Erstens: Die Kaufleute saßen (als einzige Lobbygruppe) bei der gesamten Vorbereitung mit Politikern und Verwaltung am Verhandlungstisch. Zweitens: Wenn die potentielle Kundschaft aus dem Großraum Aachen wirklich so verunsichert wäre, wie groß müßte erst dann die Zustimmung zum Projekt sein bei besserer Imagewerbung – 120 Prozent? Und wie dramatisch müßten dann erst die Umsatzzahlen in die Höhe schießen.
Und drittens: Mit jedem Mal, wo bösmeinende Politiker wie Gewerbe wie Medien von der gesperrten Innenstadt reden, als sei sie komplett dicht, schaden sie sich selbst. Auswärtigen Kunden wird damit quasi auf dem Tablett die Idee serviert, lieber andernorts einzukaufen. Völlig kontraproduktives Marketing also.
Da kann die CDU noch so laut schimpfen, daß „die Mobilität auf dem Altar der rot-grünen Machterhaltungsideologie geopfert wird“. Oder die mittelstandsfreundlichen Lokalzeitungen spekulieren, daß die Ratsmehrheit vielleicht doch noch „dem Trommelfeuer des Einzelhandels“ erliegen werde. Aachens Zeitungen (beide aus dem gleichen Verlag, mit identischen Anzeigen, die der heimische Handel schaltet) spielen ihre wichtige Rolle im großen Klüngel: Kaum daß sie mal Flagge zeigen gegen die peinlichen Kampagnen, nein, jede noch so unwichtige Kleinigkeit in der Debatte contra Verkehrsberuhigung wird zur Sensation aufgebauscht.
Kaum zeigt sich in diesen Wochen ein Landespolitiker oder Regierungspräsident Antwerpes irgendwo in Aachen, rotten sich auf Absprache Dutzende Händler zum öffentlichen Beschimpfen und Bedrängen zusammen – wie kleine Kinder, die sich bei Mama und Papa beklagen, daß Nachbarskinder sie gehauen hätten oder nicht mitspielen lassen. Das Nichtmitspielenlassen ist tatsächlich ein wichtiger Faktor. Die Schimpfenden können, und das wird bei Gesprächen mit ihnen durchaus deutlich, nicht mehr ihr Spielzeugauto benutzen. Und mit dem Volk in den Bus – das ist einfach unter ihrer Würde. Aber der heilige Eifer der Geschäftsleute hat noch andere Gründe, die fernab von Umsatzrückgängen liegen.
40 Jahre erfreute sich die Aachener Kaufmannschaft einer innigen symbiotischen Beziehung mit der Rathausmehrheit von CDU und FDP. Gern wurde das handelnde Gewerbe mit seinen mächtigen Verbänden gefragt, was denn nun und wie denn nun. Plötzlich, mit der Wahl 1989, war alles dahin. Diesen Schock, so sagen manche, haben die Gewerbefunktionäre bis heute nicht verkraftet.
Allein der Ärger kann sie trösten. Lautstarke Stänkereien, quertreiben, drohen und – am allerliebsten – spalten. Schon grummelt und mummelt es im Rathaus zwischen der aufweichenden SPD und den hartgesottenen Grünen: Eine „Karaoke-Partei“ sei die SPD, höhnt der Grüne Hermann- Josef Pilgram: „Sie singt die Schlager anderer Leute, nur schlechter.“
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