■ Der 30. Oktober 1993 oder: Haitianischer Apokalypso: Datum oder Fatum?
Wie in einem Brennglas verdichtet sich in dem haitianischen Drama das derzeitige Chaos der „Neuen Weltordnung“. Genau 501 Jahre nach der Landung Kolumbus' mit seinen hölzernen Barkassen und ein paar hundert Männern auf der Insel Hispaniola wird ein stählernes Kriegsschiff der imperialen US-Marine von ein paar hundert grölenden Haitianern an eben dieser Landung gehindert. Am 12.10.1993, dem Jahrestag der noch im letzten Jahr pompös gefeierten „Begegnung zweier Welten“, erhält die US-S. „Harlan County“ mit einer Vorhut von 200 militärischen und Polizeiberatern an Bord den Befehl von US-Präsident Clinton, sofort abzudrehen und somit der vertraglich zugesicherten Begegnung aus dem Weg zu gehen. „Harlan County“ – jener unvergleichliche Dokumentarfilm über einen der längsten und härtesten Bergarbeiterstreiks der USA, der dann vom längeren Arm der Unternehmer erdrosselt wurde – auch heute wieder ein Symbol der Ohnmacht der Vernunft im Angesicht der Macht der Unvernunft?
Der 30. Oktober, der Tag, auf den so viele nicht nur in Haiti ihre Hoffnungen setzten, rückt in immer greifbarere Nähe und zugleich in immer unbegreiflichere Ferne. Selbst wenn kein Weg an der bewaffneten Entwaffnung der derzeitigen Machthaber vorbeiführt, so wird strikt darauf zu achten sein, daß der vom haitianischen Volk mit seiner ersten freien Wahl eingeschlagene Weg einer selbstbestimmten Demokratie in vollem Umfang respektiert wird. Dabei darf man Stimmen wie der des nordamerikanischen Berufsreaktionärs Jesse Helms kein Forum bieten. Seine Lügen und die in Umlauf gesetzte Zweckpropaganda sind Teil der strukturellen Gewalt, die jeglichen Emanzipationsversuch des kolonial deformierten Südens von vornherein als „psychopathisch“ zu diffamieren sucht.
Besonders wir Deutschen können nicht oft genug auf unser eigenes Geburtstrauma verwiesen werden: Der Neuanfang aus Dreck, Schutt und Asche ist ausschließlich der Intervention fremder Truppen zu verdanken. Das deutsche Volk war offensichtlich nach „nur“ zwölf Jahren Schreckensherrschaft bereits so zerstört, daß es aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage war, sich von seinen Henkern zu befreien. In diesem Sinne spricht vieles für die bewaffnete Entwaffnung, für die Zerstörung des Zerstörungspotentials einer (un)berechenbaren Bande. Aber wie soll es dann weitergehen? Wer wird die bewaffnete Macht der Entwaffner, der Zerstörer der Zerstörung kontrollieren? Wie kann gewährleistet werden, daß der legitime Präsident Aristide tatsächlich wieder in diesen einzigartigen produktiven Dialog mit seinem Volk treten kann? Hier steht in der Tat die internationale Gemeinschaft auf dem Prüfstand, in all ihrer Heterogenität, in all ihrer Fähigkeit, die Differenz zu akzeptieren. Ulrich Mercker
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