Auf dem Weg der Besserung

In Albanien steigt die Produktion seit dem Sturz des Kommunismus / Der Einzug der Moderne in das ehemalige Reich Enver Hodschas hat begonnen  ■ Aus Tirana Erich Rathfelder

Die makedonischen Zöllner in der Nähe der Stadt Debar sind die Ankunft von Reisenden aus anderen Ländern noch nicht gewohnt. Denn dieser Grenzübergang nach Albanien wurde erst kürzlich aufgemacht. Die Beamten sind zwar überaus höflich, doch in ihrer Nervosität wissen sie nicht so recht, welcher Stempel in den Paß zu drücken ist, was zu heftigen Diskussionen führt. Albaniens Öffnung scheint auch für die Nachbarn eine Herausforderung zu sein.

Im Niemandsland ist die Straße frisch geteert. Nach einigen hundert Metern kommt der Schlagbaum der Republik Albanien in Sicht. Im Zollgebäude werden die Reisenden von freundlichen Beamten mit Handschlag begrüßt. Sorgfältig und ein bißchen umständlich tragen sie die Nummern der Pässe in ein Buch ein. Die Frage, ob Bürger der Europäischen Gemeinschaft nun 10 Deutsche Mark Gebühr entrichten müssen oder nicht, erhitzt die Gemüter. Rat von anderer Stelle einzuholen ist nicht möglich, im Zollhaus gibt es kein Telefon. Schließlich wird die Gebühr mit entschuldigender Geste erhoben. „Wir wünschen Ihnen viel Glück in unserem Land.“

Das Tal weitet sich, die karstigen Berge verschwimmen blau am Horizont. Bauern reiten auf Mulis die Straße entlang. Esel verschwinden unter der Last ihrer getrockneten Maisbüschel. Schafherden und Kühe bewegen sich erst nach längerem Hupen widerwillig von der Straße. Und auf den Feldern sind seltsame Gebilde zu sehen. Pilzen gleich brechen ihre Kappen durch das Erdreich. In Reih und Glied sind sie in die Landschaft gesetzt. Nur an den Schießscharten ist zu erkennen, daß es sich um militärische Befestigungen handelt, um die legendären Bunker des kommunistischen Präsidenten Enver Hodscha.

Zehntausende dieser Bunker sollten zur Zeit der kommunistischen Herrschaft das Land vor den Angreifern aus aller Welt beschützen. Nichts charakterisiert mehr die ungeheure Paranoia, die das alte Regime beherrschte. Die Bunker stehen für die enorme Verschwendung gesellschaftlichen Eigentums, die auf Kosten der Bevölkerung von oben betrieben wurde. „Der beste Beton, das beste Eisen wurden für den Bau dieser Einmannbunker verwendet“, erregt sich der Bauer und ehemalige Agraringenieur Eduard Agoli, „wie viele Wohnungen hätten dafür gebaut werden können?“

Er blickt über die Felder und Gärten hin zu dem Dorf, das 10 Kilometer von der Grenze entfernt in einem Talkessel gelegen ist. Oder ist es eigentlich gar kein Dorf, was da zum Vorschein kommt? Es ist eine Ansammlung von zwei- bis dreistöckigen Häusern. „Das, was Ceaușescu in Rumänien durchführen wollte, hat unser Enver Hodscha geschafft, unser Dorf ist systematisiert.“

Auf der ungeteerten Straße jedoch herrscht reges Leben. Denn auf dem Platz des Dorfes hat ein Markt stattgefunden. Ein Mädchen zerrt an einem Kalb, das ihre Eltern auf dem Markt erstanden haben, Männer treiben einige Kühe die Straße entlang. Ein Esel geht von den drei Säcken, die auf seinem Rücken gebunden sind, fast in die Knie. Frauen tragen Plastikschüsseln und allerlei Bündel mit nach Hause. „Das Land ist jetzt privatisiert, jede Familie hat je nach ihrer Größe Land zugeteilt bekommen“, erklärt Eduard Agoli. Und schmunzelnd weist er auf das Gerippe aus Beton, das von einem großen Stall übriggeblieben ist. „Die Backsteine dieses Gebäudes der Staatsfarm wurden auch privatisiert“. Und tatsächlich sind, etwas von der Straße versetzt, einige Einfamilienhäuser neu erbaut. „Da stand noch vor zwei Jahren ein Teil der Hütten der Leute, die im inneren Exil hier waren. Manche sind noch immer hier.“

Der Weg windet sich um einen Hügel und gibt den Blick auf eine Gruppe von Lehmhütten frei. Ein älterer Mann kommt mit breitem Lächeln zur Begrüßung heraus. Achtzehn Jahre habe er in zwölf verschiedenen Gefängnissen und Lagern zugebracht, erklärt er, der eigentlich aus Tirana stammt, bis er hierher ins „innere Exil“ – so war der Terminus im alten Regime – gelangte und einen Teil seiner Familie wiedertraf. Es sind seine drei inzwischen erwachsenen Söhne, seine Frau war schon während seiner Haftzeit gestorben. Den Grund für die Verhaftung wisse er nicht, von einem Teil seiner Sippe fehle bis heute jede Spur.

Die Zeiten haben sich geändert, auch der ehemalige Häftling hat Land zugeteilt bekommen. Stolz weist er auf den kleinen Stall, vor dem zwei Schweine sich im Schlamm suhlen und bezeugen, daß der Islam in Albanien nicht gerade tief verwurzelt ist. Eine Kuh hat er, und auch ein paar Hühner: „Die Hungerzeiten sind vorbei.“ Auch Eduard Agoli bestätigt, daß es nun vorwärtsgehe. „Dieses Jahr haben schon alle ihren Boden bestellt. Wir hatten noch Engpässe bei der Versorgung mit Saatgut, das wird aber im nächsten Jahr besser werden.“ Stolz kramt Agoli einen Zeitungsausschnitt hervor, wo schwarz auf weiß zu lesen ist, daß die landwirtschaftliche Produktion in Albanien in diesem Jahr um 20 bis 30 Prozent gestiegen ist.

Der Lehrer des Dorfes hat sich zu unserer Gruppe gesellt. Er zumindest möchte die positive Einschätzung des neuen Albanien nicht überborden lassen. Die Ausgangsposition der Landwirtschaft sei doch ziemlich dürftig, das letzte Jahr sei eine Katastrophe gewesen. „Damals gab es Hunger, und auch heute haben nicht alle ausreichend zu essen.“ Statistisch gesehen gehörte das Land schon in den achtziger Jahren zu den ärmsten dieser Welt, mit Honduras und Angola auf der gleichen Stufe. „1992 lag unser Einkommen im Schnitt bei 200 Dollar im Jahr und damit knapp über dem von Mosambik.“ Auch der Kontakt mit der Außenwelt bliebe trotz der Öffnung eingefroren. Wer bekomme denn schon ein Visum für das westliche Europa? Für die meisten seien die dreißig Mark schon unerschwinglich, die für den Grenzübertritt nach Makedonien auf den Tisch zu legen sind.

Tatsächlich ist der Grenzverkehr nicht gerade dicht. Auf der Straße nach Tirana kommt uns nur ab und zu ein Auto oder Lastwagen entgegen. In der Abenddämmerung ist es trotzdem angeraten, gerade bei Kurven vorsichtig zu fahren. Denn wer hatte im kommunistischen Albanien schon einen Führerschein, wo private Autos zu besitzen nicht gestattet war? Die Autowracks am Straßenrand weisen auf die Unerfahrenheit der Fahrer hin. In puncto Unfallhäufigkeit gebührt Albanien nämlich jetzt schon weltweit ein Spitzenplatz. Wie in vielen Ländern der Dritten Welt herrscht auch hier der Glaube vor, der Autofahrer, der reiche und der mächtige Mann, habe in jedem Falle die Berechtigung, alle anderen Verkehrsteilnehmer buchstäblich an den Straßenrand zu drücken.

Auf der Küstenstraße herrscht Chaos. Unbeleuchtete Pferdekarren werden von Lastkraftwagen überholt, die wiederum entgegenkommende Privatwagen kaum zu beachten scheinen. Es ist, als symbolisiere der Verkehr genau die Psychologie, die die neue Gesellschaft erfordert. Wer Ellenbogen und Stärke hat, dem wird es auch gelingen, in der neuen Zeit zu bestehen.

In der Industriestadt Lac hat gerade ein Meeting stattgefunden. Noch sind ein paar hundert Menschen auf dem Platz versammelt und hören der Folkloregruppe zu, die einen Schlager zum besten gibt. Es ist bescheidene Kurzweil, die den Menschen dennoch Freude macht. Denn im Ganzen ist die Stimmung schlecht. „Fast unsere gesamte Industrie ist aufgegeben“, sagt eine Frau, die früher als Dolmetscherin bei dem großen Chemiewerk der 4.000-Einwohner- Stadt tätig war. „Nur der Düngemittelsektor arbeitet noch.“ Sie deutet auf den großen Industriekomplex, der linker Hand vom Platz in der Ferne zu sehen ist. „Die meisten Leute hier sind arbeitslos, über 80 Prozent.“

Eine Gruppe bildet sich, alle führen dieselbe Klage. Das alte Regime war sicherlich nicht gut, doch von den Segnungen der Marktwirtschaft sei bisher nicht viel zu merken. Nur der Kiosk, wo Schokolade, Zeitungen und ausländisches Bier angeboten werden, wird als Bereicherung empfunden. Doch auch wenn die Regierung der „Demokratischen Partei“, die seit 16 Monaten im Amt ist, die Inflation drücken und die Währung stabilisieren konnte, hätten nur wenige mit dem nun legalen Handel ihr Glück gemacht. „Eine Büchse Bier kostet 50 Leke, und ich verdiene nicht einmal 2.500 Leke im Monat. Doch viel wichtiger ist, daß die Lebensmittel teuer sind, selbst für ein Kilo Paprika muß ich 40 Leke hinlegen“, klagt ein junger Mann, der in der Stadtverwaltung arbeitet.

„Hier in Lac wurde bei den Gemeindewahlen im Frühjahr die „Sozialistische Partei“ gewählt, die haben auch nach Stillegung der Werke 80 Prozent des vorhergehenden Lohnes den Arbeitern bezahlt, die wollen die Industrie nicht vor die Hunde gehen lassen.“ Die Rohre des Chemiewerkes, die von der Straße aus eingesehen werden können, sind von Dampf und Chemikalien mit einer undefinierbaren Masse zugedeckt. „Bei Helligkeit würden Sie sehen, daß die Abwässer durch offene Kanäle aus dem Werk geführt werden“, erläutert ein Student, der mit uns nach Tirana fahren will. Der ätzende Geruch bestätigt das Gesagte. „Auch wenn es schmerzlich für viele ist, diese alten Industrien sind nicht zu retten. Wir brauchen völlig neue Werke – und ein neues Verantwortungsgefühl.“

Einstmals waren die Alleen, die nach Tirana führten, ein Markenzeichen dieses Landes, klagt er. Doch jetzt stünden nur noch vereinzelt Bäume am Straßenrand. „In den vergangenen Wintern wurde von den Leuten alles abgeholzt, um Brennholz zu gewinnen. Dieses Jahr wird in den verbliebenen Wäldern gehaust.“

Endlich tauchen die Lichter von Tirana auf. Auf den Boulevards, die zum Skanderbeg-Platz führen, flanieren die Menschen. Viele sitzen trotz der Kühle auf den Plastikstühlen der neu entstandenen Straßencafés. „Noch vor einem Jahr traute sich aus Angst vor Überfällen um diese Zeit niemand mehr auf die Straße“, freut sich der Hotelportier. „Erst jetzt ist das Lebensgefühl anders geworden, wir werden wieder eine Stadt“, sagt Dülber Vrioni, Führungsmitglied der „Demokratischen Partei“.

In einem der neuen Restaurants, die in Hinterhöfen entstanden sind, herrscht eine entspannte Atmosphäre. „Leider kann ich Sie nicht nach Hause einladen, ich lebe in einer Gemeinschaftswohnung in einem dieser typischen heruntergekommenen Mietshäuser, und da ist es ziemlich beengt“, entschuldigt sich Vrioni, der aus einer der alteingesessenen Familien des Landes stammt. Er zumindest besteht nicht darauf, den ehemaligen Großgrundbesitz seiner Familie, zurückzuerhalten. „Wir müssen neue Wege gehen, wir müssen von vorne anfangen, soll das Land meiner Familie doch an die Bauern aufgeteilt werden. Wenn die es richtig bearbeiten, nützt es uns allen.“

Vrioni spricht von den Projekten, von den Erfolgen der neuen Regierung. In den 16 Monaten seit deren Amtsantritt sei doch schon einiges erreicht worden. Die Währung sei stabil, weil die Praxis, Löhne für Nichtstun zu bezahlen, beendet worden sei. Nur mit der Anhäufung von Auslandsschulden in Höhe von 600 Millionen Dollar und einer ungebremsten Inflation habe die alte Regierung dies finanzieren können. Mit den Gemeinderatswahlen habe die Demokratie ihren Unterbau erhalten, eine Menschenrechtsdeklaration sei verabschiedet, das Parlament habe in kürzester Zeit viele Gesetze erlassen, die den Weg für eine wirtschaftliche Erneuerung ebneten. Sogar die Reform der Universitäten sei vorangebracht worden.

Vrioni strahlt Optimismus und Engagement aus. „Es sind viele Arbeitsplätze verlorengegangen, vor allem in der Industrie, doch es sind auch 100.000 neue Arbeitsplätze entstanden“, bilanziert er stolz. „Wir müssen die Menschen aus der Passivität holen, und wir sind auf dem Weg dazu.“