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Die armen Alten und die „Woopies“

Wohnen im Alter: Öffentliche Träger und Behörden öffnen sich langsam neuen Konzepten für die Betreuung älterer Menschen / Staffelmodelle zwischen ambulanter Hilfe, Tagespflege, Wohnanlage und Pflegeheim  ■ Von Heide Platen

Frau Müller ist klein, zierlich, weißhaarig, mittlerweile 93 Jahre alt und lebt seit über sechzig Jahren in ihrer Dreizimmerwohnung in Frankfurt-Bornheim. Der Mann ist schon lange gestorben, ab und zu schaut der Urenkel vorbei. Die ehrenamtliche Helferin der Altenbetreuung kommt nicht mehr. „Die war“, sagt Oma Müller und lächelt verschmitzt, „über siebzig und schon etwas zu alt und vergeßlich.“ Frau Müller hat Angst um ihre Selbständigkeit. Erst schloß der Lebensmittelhändler, dann der Supermarkt an der Ecke. Seither muß sie zum Einkaufen weit laufen. Wie lange sie das noch kann, weiß sie nicht. Vorerst hält ihr Hund sie noch aufrecht und in Bewegung: „Wenn der stirbt, dann will ich auch nicht mehr leben.“ Das Altersheim kommt für sie „schon wegen Putzi gar nicht in Frage“.

Einige, wenn auch wenige, Altenheime lassen inzwischen Hunde und Katzen zu. Ein Heimleiter holte extra einen streichelresistenten Zwergpudel aus dem Tierasyl. Die Alten, sagt er, die sonst träge in ihren Stuben hockten, rissen sich nun darum, mit dem Hund spazierenzugehen. Anders reagierte ein Altenheim in der Frankfurter Innenstadt. Jedesmal wenn das Pflegepersonal den Kater erwischte, der sich von den BewohnerInnen heimlich dick und rund fütterten ließ, flog er wieder raus, „aus Hygienegründen“.

Leben und Wohnen im Alter hat heute viele Varianten: von Bettenburg über die Seniorenresidenz bis zum Eigenheim. Die Spannbreite reicht von den „Woopies“, den weltreisenden Well Off Older People, bis zur Altersarmut. Da ist die Rentnerin, die sich elf Monate im Jahr in Spanien einquartiert hat und dort in der Feriensiedlung im Krankheitsfall wesentlich mehr internationale Nachbarschaftshilfe erfährt als in ihrem heimatlichen Hochhaus. Sie kommt dort mit ihrer nicht gerade üppigen Rente gut zurecht und möchte erst dann zurückkehren, „wenn es mal gar nicht mehr anders geht“. Da ist die Witwe, die Rente und Miete aus dem eigenen Haus nach Hawaii und Thailand trägt. Und da ist die wohlsituierte Ärztin, die nun schwerkrank als Pflegefall im Altersheim liegt. Von ihrem nicht unbeträchtlichen Einkommen bleibt ihr bei Pflegekosten von fast 7.000 Mark monatlich kein Pfennig übrig, und ihr Vermögen zehrt sich rasant auf. Das macht der selbstbewußten Frau zu schaffen: „Wofür soll ich denn da überhaupt noch einmal gesund werden?“

Jeder fünfte Mensch in der Bundesrepublik ist über 60 Jahre alt, insgesamt 12,5 Millionen. Prognosen sagen voraus, daß es bis zum Jahr 2030 18,5 Millionen sein werden, also über ein Drittel der Bevölkerung. Dem will eine Wanderausstellung des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Rechnung tragen. Die Fotos und Stellwände wollen ein Konzept von Selbständigkeit und ambulanter Hilfe fördern. Ministerin Irmgard Schwaetzer: „Das bedeutet, auch im Alter dort zu leben, wo man schon lange lebt: in der eigenen Wohnung und in der vertrauten Umgebung.“ Ihr Appell allerdings richtet sich merkwürdig vage „an alle, die in irgendeiner Weise unsere gebaute Umwelt mitgestalten“. Die Ausstellung wirbt für das Leben im „heilen“ Ort oder Stadtviertel mit kurzen Wegen zum Bäcker und nahen Bushaltestellen.

Sie nimmt sich in weiten Teilen aus wie eine Kampagne für elektronische Geräte: elektronische Fernbedienungen für Heizung, Licht, Türen, Fernseher, Rauch- und Gaswarnanlagen, Notrufsysteme, Gegenruf, Geschirrspüler und Mikrowelle für das tiefgekühlte „Essen auf Rädern“. Dazu kommen Ratschläge, die das Heim in eine Festung verwandeln: massive Panzerriegel und Doppelschlösser für Türen und Fenster, Bewegungsmelder, Sirenen. Insgesamt bestätigt sie allerdings die These, die der Soziologe Ernst Klee schon vor vielen Jahren aufstellte. Alles, was behindertengerecht gebaut wird, kommt auch Nichtbehinderten als Erhöhung der Lebensqualität zugute. Das reicht von gesunden Betten über Küchenarbeitsplatten in ergonomischer Sitzhöhe, im 180-Grad- Winkel zu öffnenden Schranktüren, niedrigen Fenstergriffen, rutschfesten Badewannen, hellen, benutzerfreundlichen Hauseingängen und Fahrstühlen bis zu Rampen statt Treppen.

Auch die hessische Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Iris Blaul, möchte die steigende Zahl der Senioren eher in der eigenen Wohnung betreut als im Altenheim untergebracht sehen: „Wir müssen weg von den unpersönlichen und unwürdigen Altenpflegeheimen, wo alte Menschen nur gut verwahrt werden können.“ Dies liege, meint sie, weniger am bösen oder guten Willen der Träger-Verbände und des Personals, sondern eher an der klinikähnlichen Struktur der Häuser, die Individualität nur schwer in den täglichen Betrieb integrieren können. Ziel, so Blaul, solle es sein, daß alte Menschen „so lange wie irgend möglich über ihr Leben selbst verfügen können“.

Der Zug der Zeit geht weg vom Altenheim als Abschiebebahnhof, in dem Heimbewohner „Insassen“ sind, wie es noch 1982 eine Praktikantin erlebte und in der Zeitschrift psychosozial erschütternd dokumentierte. Sie lernte dort ein aggressiv pflegendes Personal kennen, das die BewohnerInnen in Unselbständigkeit hielt, Fernsehen reglementierte, Schlafenszeiten diktierte, Nachttöpfe dem langwierigen Gang auf die Toilette vorzog, die Menschen ständig beaufsichtigte und behinderte, weil die ja „etwas schmutzig machen“ könnten: „Neuerdings wird der Schlüssel von Frau Christeleits Schrank versteckt. Wahrscheinlich, damit die Sachen nicht durcheinander kommen. Die Frau darf also nicht mehr an ihren eigenen Wäscheschrank.“

Auf einer der Terrassen des Hufeland-Hauses in Frankfurt- Seckbach genießt eine alte Frau die warme Herbstsonne. Der Bau ist 1964 als klassisches Alten- und Pflegeheim enstanden und galt damals, sagt Beratungsleiterin Renate Uhl, als „richtig luxuriös“. Inzwischen ist der Beton-Charme abgeblättert ,und die Konzepte veränderten sich hier früher als anderswo. Der damalige Leiter orientierte sich an englischen, holländischen und skandinavischen Modellen und eröffnete 1973 die erste Tagespflege. Daraus entwickelten sich, mit wachsender Erfahrung, begleitende mobile Hilfsdienste. 1992 gab es im ganzen Bundesgebiet 1.642 Tagespflegeplätze, die Betreuung stundenweise oder ganztags anbieten. Das bleibe immer noch, so Renate Uhl, „weit hinter dem Standard“ anderer Länder zurück. Die Tagespflege, während der auch Therapie angeboten wird, kostet 50 Mark pro Tag und kann von den Krankenkassen bezuschußt werden. Renate Uhl möchte die Grenzen zwischen ambulanter Hilfe in der eigenen Wohnung, Tagespflege, dem Umzug in eine Altenwohnanlage und dem stationären Aufenthalt in einem Pflegeheim nicht schematisch ziehen. Die Übergänge seien fließend, die Umstände unterschiedlich. So könne „auch ein Schwerstbehinderter“ durchaus daheim bleiben, „wenn er das verkraftet und wir mit ihm einen genauen Tagesplan machen“, andererseits könne „ein noch recht rüstiger Mensch“, der an Angst und Einsamkeit leide und depressiv werde, ohne Betreuung und Ansprache „ganz schnell seelisch und körperlich abrutschen“. Uhl: „Das müssen wir ganz behutsam prüfen.“ Vertrauen schaffe die stadtteilbezogene Arbeit, die Möglichkeit zu Beratung und Besichtigung. Ein Rollstuhlfahrer beschreibt das für sich: „Ich muß was tun. Zu Hause würde ich nur auf dem Sofa sitzen und Fernsehen gucken. Hier habe ich Gesellschaft und komme auch mal an die Luft, wenn ich im Garten sitze.“ Er beteiligt sich auch an den handwerklichen Therapieangeboten.

In der Altenwohnanlage Rhönstraße im Frankfurter Ostend kostet ein Zimmer mit Küche und – „ganz wichtig für alte Menschen“, sagt die ehrenamtliche Helferin Ingelore Bender – „richtig geräumigen Bädern“ rund 2.000 Mark. Im Erdgeschoß treffen sich Menschen aus dem Haus und der Umgebung zum Alten-Club. 140 gab es davon in der Stadt, 30 werden im Zuge der Sparmaßnahmen gestrichen. „Das gibt“, sagt Club-Leiterin Renate Schwalm, „Probleme, weil diese Clubs, auch wenn sie nicht ausgelastet sind, ihre eigene Entstehungsgeschichte und gewachsene Strukturen im Stadtteil haben.“ Sie versucht, die Eigeninitiative der Senioren zu stärken und unterscheidet sie dabei in „junge“, „aktive“ und „hochbetagte“ Alte. Gerade bei den „Hochbetagten“ macht sie „manuelle und verbale Fähigkeiten“ aus, die sie fördert: „Die haben gelernt, noch aus nichts was zu machen. Und sie können wunderbar schreiben und erzählen.“

Die Werkstatt im Haus wird in Selbstverwaltung betrieben, ein Hörspiel problematisiert Verständigungsschwierigkeiten zwischen einer Senioren-Kaffeerunde und einem Zivildienstleistenden. Seine Neugier auf die Vergangenheit wird zuerst, wegen der Erfahrung ablehnender Haltung auch in den eigenen Familien, als „Aushorchen“ empfunden.

Altersarmut, die vor allem Frauen trifft, ist nur eine der vielen Seiten des Alterns. Eine Altenpflegerin erzählt von ihrer Erfahrung, daß alte Menschen, die sich im Altenheim, das heute Residenz heißt, einmieten, eine „überhöhte Erwartungshaltung haben“: „Die denken, sie seien im Hotel und wollen nichts selber machen.“ Und: „Die sagen der Ärztin oder der Krankenschwester, sie soll doch mal eben den Müll wegräumen.“ Es sei schwierig, sie zu Gymnastik, Therapie, Freizeitangeboten zu bewegen, noch schwieriger, sie zur – Hilfe zur Selbsthilfe und neue Konzepte hin und her – Mithilfe in Verwaltung und Küche zu animieren. Daß solche Ideen auch bei dem ebenso knappen wie eingespielten Personal eher als Störung des gewohnten Arbeitsablaufes empfunden werden, sei das andere Problem: „So ergänzen die sich perfekt negativ.“ Es mangele einfach an Information und Aufklärung: „Die wirklich Armen werden oft erst eingewiesen, wenn sie ihre Hilflosigkeit nicht mehr verbergen können. Wo“, fragt die Helferin, „lernen denn auch gerade sie in dieser Gesellschaft, in der sie immer nur Mangel gelitten haben, daß es eine stufenweise Altersplanung und auch Hilfen dazu gibt?“

Daß Altenpflege in den meisten Fällen auch heute noch „Töchterpflege“ ist, zeigte eine Studie der hessischen Frauenbeauftragten. Deren verborgene Schattenseiten sind dabei nicht berücksichtigt. „Fremde Leute kommen mir nicht ins Haus“, werden da, wissen Beraterinnen, öffentliche Hilfsangebote strikt abgelehnt. Sie wissen auch von der Überforderung und den Auseinandersetzungen innerhalb der Familien, die durch Hauspflege entstehen.

80 bis 90 Prozent der Pflegebedürftigen insgesamt, so der Vorsitzende der Sozialausschüsse der CDU, Ulf Fink, werden zu Hause versorgt. Die Pflegenden sind oft selbst älter als 65 Jahre und der Spannung zwischen Aufopferung und uneingestandener Aggression nicht gewachsen. Eine Frau, die jahrzehntelang kranke Familienmitglieder gepflegt und sie dann umgebracht hatte, geriet als „Giftoma“ in die Schlagzeilen. Sie sagte vor Gericht schlicht: „Es wurde mir einfach zu viel.“ Daß das Altern auch in der eigenen Familie nicht einfach ist, betont eine Arbeitsgruppe der „Universität des 3. Lebensalters“ in Frankfurt. Eigene Wege, Reisen, Bildung stoßen nicht immer auf Begeisterung, wenn Oma und Opa eher zum Rasenmähen und Kinderhüten gefragt sind.

Der Senioren-Schutz-Bund „Graue Panther“ fordert politische Konzepte zu „Selbstverwaltung und Beistand“, ein Grundeinkommen für alle, Patientenschutz und wendet sich gegen Mehrbettzimmer und Ehepaartrennung in Altenheimen. Er verlangt bis 1995 eine „generelle Auflösung der jetzigen Strukturen“. Pflegegeld soll, so die Organisation, von ihren Beziehern, wie das Krankengeld, eigenständig und nach ihrer Wahl verwendet werden können. Er entwickelte außerdem Pläne für selbstorganisierte und -finanzierte Altenwohnprojekte, auch gegen den Willen staatlicher Kontrollstellen. Gründerin Trude Unruh rechnet vor, daß die „Schwerstpflege“ im Einzelzimmer dann um zwei Drittel der öffentlichen Kosten gesenkt werden könne. Im Modellprojekt „Lebenshäuser“ in Wuppertal kostet sie derzeit zwischen 1.200 und 2.000 Mark.

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