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Lieben Gruß, Ihre Eurydike

Brutal, naiv, katholisch: Krzysztof Kieslowskis neuester Film „Drei Farben: Blau“ ist der erste Teil einer Europa-Trilogie, die in Frankreich, Polen und der Schweiz spielen wird  ■ Von Mariam Niroumand

„Sieben Tage der Woche“, „Sieben Frauen unterschiedlichen Alters“, Zehn Gebote – Kieslowskis Filme folgen dem ehernen Gesetz der Serie. Das darin dargestellte Leben seiner Protagonisten läßt er allerdings immer wieder gern vom Zufall regieren; zufällig nimmt ein Taxifahrer den jungen Mann mit, der ihn eine halbe Stunde lang erwürgen wird; zufällig steigt der Medizinstudent in den Zug, der ihn in eine Parteiversammlung führen wird (wenn er den Zug verpaßt, geht er in die Opposition), und zufällig verliert Julie (Juliette Binoche) zu Beginn von „Bleu“ ihren Mann und ihre kleine Tochter bei einem Autounfall. Diese Kombination – äußere Strenge und innere Willkür – etabliert den Regisseur an höchster Stelle, höher selbst als den Autor des Autorenkinos. Während sie unten zappeln, werden oben gottgleich die Lektionen entworfen, die zu lernen, die Gebote, die einzuhalten sind.

„Trois couleurs: Bleu“ ist der erste Teil einer Trilogie, der sich mit der Freiheit beschäftigt. Sie ahnen schon, werte Leser, wie es weitergeht: Der nächste Film, „Blanc“, wird der Gleichheit gewidmet sein und in Polen spielen, „Rouge“ dagegen der Brüderlichkeit, die wiederum in der Schweiz stattfindet.

Julies Auto verunglückt auf regennasser Straße, richtig spannend hat Kieslowski das gemacht, so ein bißchen Hitchcock, bis wir wissen, ob die Kleine es geschafft hat. Ihr roter Ball rollt nämlich erst noch auf die Straße, ganz langsam, und die Kamera verweilt ewig auf der verbeulten und zusammengequetschten Karosserie. Sie hat es natürlich nicht geschafft, und ihr Vater auch nicht, denn in diesem Film soll Julie lernen, was Freiheit ist, und dazu muß der Regisseur ihr erst einmal das Liebste nehmen.

Als weiße Schemen tauchen der Erweckten die ersten Menschen auf, die sie nach dem Unfall sieht. Nachdem die Hiobsbotschaft durch den Arzt überbracht ist – Du bist allein! – will sie sterben, schafft es aber nicht so recht, bleibt also in jenem Zwischenreich, in dem Kieslowski seine Frauenfiguren so gern ansiedelt: Nicht ganz tot, nicht ganz lebend, blaß, ein Doppelleben führend, Medium zwischen uns und dem Orkus. Lieben Gruß, Ihre Eurydike.

Mich hätte es nicht weiter gewundert, wenn Julie sich nach dem Unfall die Haare geschoren hätte, aber der Binoche gelingt es, den Büßerinnen-Style auch so zu produzieren. Sie zieht in die Villa zurück, verbrennt alte Briefe und Fotos, während die Dienstboten schreien in ihrem Schmerz (nur in der Speisekammer, versteht sich), beherrscht sie sich. Sie will des Lebens entsagen, mit Olivier (Benoit Régent) schläft sie nur, um Sex, Liebe und so weiter so effektiv wie möglich abzutöten. Der dröhnende Chor himmlischer Heerscharen, der mich meine ganze Kritikerdisziplin gekostet hat, kann nicht verhehlen, daß dieser Film von einer brutalen Funktionalität zusammengehalten wird. Ein Beispiel: Julie, die inzwischen aus der heimatlichen Villa ausgezogen und mitten ins Sündenbabel Paris eingezogen ist, findet in ihrer Abstellkammer eine Maus mit einem Wurf nackter, zirpender rosa Junger. Kinder! Julie kann sie nicht erschlagen und läuft deshalb zum Nachbarn, leiht sich dessen Katze und setzt sie auf die Mäuse an. Eine Katze, wissen Sie, ist so ein Gerät zur Mäusevernichtung. Olivier wiederum ist ein Gerät zur Läuterung. Nachdem er dem Regisseur zunächst dazu gedient hat, Julies Einsamkeit zu unterstreichen, darf er im letzten Drittel Überbringer der Botschaft sein, daß es ohne Liebe nicht geht. Die Lehre: Die Freiheit ist ein Dings, das man erlangt, um sich der Anderen (nicht irgendwelcher sozialer oder gar, pfui!, materieller Ketten) zu entschlagen, aber Ihr Menschlein müßt dann eben feststellen, daß diese splendid isolation nur einem zusteht, und daß Ihr sie nicht wirklich aushaltet.

Die größte Überraschung an „Blau“ ist vielleicht die ungeheure ästhetische Naivität dieses Films. Jesus, dieses blaue Glasmobile! Julie besitzt ein Glasmobile. Es klimpert, schillert und fällt, ganz wie die Tränen der Jungfrau Maria, ganz wie am Anfang der Tropfen in der Öllache, die aus dem Auto auslief.

Auf jeden Fall soll die Chose ein europäisches Projekt werden. Zu Recht hat der französische Kritiker Vincent Ostria das „Concerto pour l'Europe“ als den MacGuffin dieses Films bezeichnet. Julies Mann hat es vor seinem Tod komponiert, und Julie bringt es zu Ende, als gute Eurydike mit besten Drähten zur Unterwelt. Es wird niemanden wundern, daß Zbigniew Preisner, der seit 1985 die Musik für Kieslowski macht, auch für Louis Malles „Verhängnis“ komponierte. Die donnernden Chöre, die wohl an die „Carmina Burana“ erinnern sollen, halten den Zuschauer und auch die Akteure in einem ständigen Stahlbad fest, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Kieslowski, der noch in „La Double Vie de Véronique“ wenigstens ein Spielbein in Polen hatte, ist nun ganz nach Frankreich hinübergeschwenkt, allerdings ohne seine neue Umgebung irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Von der Rue Mouffetard ist nichts als ein pittoresker, touristischer Abklatsch zu sehen, der Victor Hugo sucht und nichts so sehr vermeidet wie den Anblick der Clochards, von denen manche aus Polen kamen und nach Frankreich zogen, um die Freiheit zu finden.

„Drei Farben: Blau“. Regie: Krzysztof Kieslowski. Musik: Zbiegniew Preisner. Kamera: Slawomir Idziak. Mit Juliette Binoche, Benoit Régent, u.a., Frankreich, 1993, 98 Min.

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