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„Wir sind bereit zu teilen“

Bei VW in Wolfsburg ist der Viertagewoche-Vorschlag das zentrale Thema / Gegenwehr gegen Lohnsenkung gilt als Illusion, doch bis ans Existenzminimum will man sich nicht drücken lassen  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

An den Laufbändern der Halle schweben große grüne Metallkörbe mit gerade gepreßten glänzenden Karosserieteilen. Bei genauerem Hinsehen kann man sie mal dem Fahrzeugheck oder auch der Flanke zuordnen. Die verschlungenen auf und ab führenden Wege der Teile werden von anderen Bändern gekreuzt, an denen leere Körbe hängen. Die lärmenden Pressen weiter hinten in der Halle sind durch das Gewirr aus Metall kaum zu sehen. Hier, von der Empore des „Sektor“ genannten Eingangsbereichs 10 der Halle 2 herab, scheint das Werk menschenleer, scheinen sich die Körbe ruhig und zielsicher von selbst zu bewegen. Nur rechts und links sieht man in einiger Entfernung zwei Fahrer auf ihren Gabelstaplern, und hin und wieder kreuzt auf dem orange markierten Weg am Boden der Halle ein Radfahrer den Blick.

Eine andere Halle, in der dicht an dicht sich Tausende Arbeiter drängen, zeigt ein plakatgroßes verblaßtes Farbfoto, das im Besprechungsraum im Sektor 10 über einem grauen Aktenschrank mit der Aufschrift „Tarifverträge“ hängt. „Eine Betriebsversammlung in Halle 11“, sagt IG-Metall- Vertrauensmann Siegfried List, der davor an einem der weiß beschichteten Tische Platz genommen hat: „Wenn es dort wie damals richtig voll ist, gehen 30.000 Leute rein.“ Das Wolfsburger Stammwerk von VW zählt auch heute noch 52.000 Beschäftigte, und natürlich sind die „verunsichert“ oder zumindest „beunruhigt“, seit der VW-Vorstand die Viertagewoche, die radikale Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, vorgeschlagen hat.

Weder Betriebsrat noch Unternehmensleitung sehen zur Zeit gerne Pressevertreter auf dem Werksgelände. Nicht für die taz, sondern für Siegfried List hat man heute eine Ausnahme gemacht; denn der hat einiges „richtigzustellen“, sieht sich und zwei seiner Kolleginnen von einem Hamburger Nachrichtenmagazin falsch wiedergegeben: „Natürlich würden uns Lohneinbußen schwer treffen, aber wir sind eben auch durchaus bereit zu teilen.“

Dreher hat Siegfried List einst gelernt, heute richtet er in der Forschung und Entwicklung von VW Werkzeuge an CNC-gesteuerten Maschinen ein. Der ruhige 54jährige wechselte 1966 von Voigtländer in Braunschweig zu VW, vier Jahre bevor jenes Kamerawerk geschlossen wurde, weiß von damals, „wie es ist, wenn ein Industriezweig plattgemacht wird“. Er trägt Blue Jeans, ein graues Hemd und gehört unter den Arbeitern von VW mit 3.900 DM netto im Monat „inklusive Schichtzuschläge“ zu den Spitzenverdienern. Jene Hälfte der VW-Beschäftigten, die direkt in der Produktion arbeitet, bekommt am Monatsende höchstens 2.900 DM aufs Konto. Bei jungen Unverheirateten mit Steuerklasse 1 könne der Nettolohn auch bei 2.500 bis 2.600 DM liegen, sagt List, meint aber: „Jeder hier hat sich seinen, wenn auch bescheidenen, Lebensstandard erworben.“

Bescheidener Wohlstand – für List, der verheiratet ist und zwei, schon erwachsene, Kinder hat, heißt das: „eine 115-Quadratmeter-Eigentumswohnung im Wolfsburger Stadtteil Westhagen. Sie liegt abseits von den Westhagener Hochhäusern, die man von der Autobahn aus sehen kann, in einen nur dreistöckigen Haus, außen Klinker, kein Beton und Türmchen dran. „1.800 DM, aber warm mit allem Drum und Dran“ zahlt er monatlich für sein Heim, doch das ist nicht sehr viel mehr, als er auch in Wolfsburg für eine vergleichbare Mietwohnung unterm Strich zu zahlen hätte. Seine Frau arbeitet stundenweise sozialversicherungsfrei und verdient etwa jene 500 DM dazu, die der Sohn monatlich von seinen Eltern noch erhält. Im nächsten Jahr wird er sein Studium beenden. Die Wohnung ist auch eine Art Alterssicherung für die Eheleute. Im vierzigsten Berufsjahr steht List heute, wenn er spätestens mit 60 in Rente geht, soll sie abbezahlt sein, soll die Differenz zwischen Lohn und Rente ausgleichen helfen. „Wenn wir das bis dahin nicht schaffen, geht es uns als Rentner schlecht“, sagt List.

Vor die Alternative „betriebsbedingte Kündigungen“ – sprich Massenentlassungen – oder „Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf vier Tage mit einer Kürzung des Entgelts“ hat VW-Personalvorstand Peter Hartz in der vergangenen Woche die bundesweit 107.000 VW-Mitarbeiter gestellt. Bei einer 20prozentigen Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich von heute 36 auf dann 28,8 Stunden würde Siegfried List beinahe 800 DM im Monat verlieren. „Als ich zum erstenmal davon hörte, habe ich es nicht geglaubt“, sagt er. Im Werk hatten Betriebsrat und IG-Metall dann mit Mißtrauen zu kämpfen. „Die Kollegen glaubten natürlich“, sagt List, „der Betriebsrat habe das alles schon früher gewußt.“ Von 30 Vertrauensleuten aus dem Bereich Forschung und Entwicklung haben sich am Ende dennoch nur zwei gegen eine Arbeitszeitverkürzung ausgesprochen. „Um betriebsbedingte Kündigungen, um einen Sozialplan zu vermeiden, sind die allermeisten Kollegen bereit, ihren Beitrag zu leisten“, meint List, und das gleiche hört man auch immer wieder vom Betriebsrat. Aber „sozialverträglich“ soll die Arbeit verkürzt werden, denn: „Nicht jeder kann gleich viel hergeben.“ Beim Management bis hinunter zum Abteilungsleiter sollten die Einbußen auf jeden Fall größer sein, beschreibt List die Stimmung unter seinen Kollegen.

Eine 10- oder gar 20prozentige Kürzung der Realeinkommen ist allerdings mit jenem Beitrag keineswegs gemeint, den viele für die Sicherung der Arbeitsplätze zu leisten bereit sind. Die IG-Metall verlangt immer noch Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich. „Am Ende geht das dann zu wie auf dem Schweinemarkt, muß das ausgehandelt werden. Unter das Existenzminimum einer Familie darf das nicht gehen“, sagt der schon grauhaarige Vertrauensmann. Einschränken müßte man sich wohl am Ende beim Urlaub, könnte nur noch selten mal 14 Tage an die Nordsee fahren, obwohl seine Frau wegen ihres Asthmas gerade das braucht. Der 54jährige, dessen leicht rote Gesichtsfarbe keineswegs von Gesundheit, sondern eher von einem langen kräftezehrenden Arbeitsleben zeugt, hofft zudem, daß der Sohn nach seinem Examen bald eine Arbeit bekommt, finanziell dann auf eigenen Füßen steht.

Es ist gegenwärtig keineswegs nur das Unternehmen Volkswagen selbst, das den VW-Arbeitern in die Tasche greifen will. Zum Jahreswechsel steigen die Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung, wird Versicherungssteuer für Lebensversicherungen erhoben. Immer noch soll dann auch die Pflegeversicherung eingeführt werden. Gleichzeitig stiegen die städtischen Gebühren etwa für die Entsorgung, was nicht nur für Eigentümer wie Siegfried List, sondern auch für Mieter das Wohnen verteuert. Dem Vertrauensmann kürzt so allein schon der Staat sein Einkommen „um mehr als 200 DM“ oder 2 Prozent. Selbst seinen kleinen Sportverein hat die Sparpolitik schon in die Finanzkrise gebracht. Da hat die Stadt die Gebühren für Hallen, Sportplätze und Flutlicht so heraufgesetzt, daß „sehr viele Mitglieder austreten würden, wenn wir die Beiträge dem anpassen wollten“. Sicher, in den letzten Jahren habe man einigermaßen gelebt, sagt Siegfried List und fügt bitter hinzu: „Aber in einer gewissen Schicht hierzulande meint man jetzt, der Arbeiter lebt heute zu gut.“

Den Gedanken daran, daß die VW-Arbeiter sich gegen eine Senkung der Löhne auch wehren könnten, verweist der Vertrauensmann ruhig, aber energisch ins Reich der „reinen Spekulation“, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und hebt dabei abwehrend die Hände. Das große Foto hinter ihm von der Betriebsversammlung in Halle 11 stammt – an der Haartracht der Arbeiter ist es unschwer zu erkennen – noch aus den siebziger Jahren. Damals hatte das Wolfsburger Werk mit 68.000 Beschäftigten seinen Höchststand. 40 Stunden arbeitete man damals und konnte täglich etwa 3.500 Wagen produzieren. In 36 Stunden bringen es die heutigen 52.000 Beschäftigten auf die gleiche Tagesproduktion, und es sind aufwendigere Fahrzeuge: „Da ist viel mehr Elektronik drin.“ Schon vor der Ankündigung der Viertagewoche war für Wolfsburg ein weiterer Personalabbau auf gut 47.000 Beschäftigte fest vereinbart, ohne daß die Produktionskapazität dadurch sinken sollte.

Im Werk arbeitet man gegenwärtig an der Einführung der Gruppenarbeit auf allen Ebenen. Es läuft die zweite Stufe des „kontinuierlichen Verbesserungsprozesses“, im VW-Jargon „KPV-Quadrat“ genannt. Den „Personalüberhang“ von etwa 30 Prozent in allen bundesdeutschen Volkswagen-Werken hat Arbeitsdirektor Hartz denn auch nicht nur mit der schwierigen Lage auf den Automobilmärkten, sondern vor allem „mit den in den vergangenen Monaten durchgeführten Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität“ begründet.

Die Verbesserungen, für deren konsequente Durchsetzung Rationalisierungsexperte Ignacio López die Vollmachten bekommen habe, entsprächen in vielen Punkten alten Forderungen der Gewerkschaft, meint Vertrauensmann List, und er hält die Rationalisierungen für unvermeidbar, weil schließlich VW „der Japaner im Nacken sitzt“. In Wolfsburg helfen die Arbeiter selbst kräftig mit, die Fabrikhallen immer mehr von Menschen zu leeren.

Eine Reihe von Plakaten der IG-Metall schmücken die Wände in dem einfach möblierten Raum im Sektor 10 von Halle 2, den früher die Vertrauenskörperleitung zu Besprechungen nutzte. Eines davon informiert über die erkämpften Erfolge der Gewerkschaft von 1957 bis heute. Akribisch sind darauf die Tariferhöhungen aufgelistet etwa 6,7 Prozent im Jahre 1991 und als geringste jene Zahl von 2 Prozent des Jahres 1985, als mit der Verkürzung der Arbeitszeit auf 38,5 Stunden der Weg in Richtung 35-Stunden-Woche geebnet wurde. Eine 20prozentige Gehaltskürzung würde niemals in diese Reihe passen, sie würde die VW-Beschäftigten auf das Reallohnniveau der siebziger Jahre zurückwerfen.

Im noblen hannoverschen Hotel Maritim hat der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel vorgestern klargestellt, daß eine solche Lohnsenkung mit siner Organisation nicht geht, daß das alles „Horrormeldungen“ seien. Am 11.11. werden die offiziellen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft und Volkswagen über die Arbeitszeitverkürzung beginnen. Die Gewerkschaft will einen über eine ganze Reihe von Jahren laufenden Tarifvertrag erreichen, der betriebsbedingte Kündigungen ausschließen soll. Anbieten will sie zunächst, daß die Senkung derArbeitszeit auf 35 Stunden vorgezogen wird. Ein ganzes Bündel von neuen Regelungen soll dabei die 20 Prozent, die Volkswagen und Gewerkschaft bisher trennen, überbrücken helfen. So hält etwa der IG-Metall-Verhandlungsführer Jürgen Peters nur in einzelnen Bereichen von VW die 30-Stunden-Woche, sechs Stunden Arbeit an fünf Tagen, für denkbar. Daneben sollen die Arbeiter in großer Zahl in Fortbildung geschickt werden, und es soll ein Stafetten-Modell geben, bei dem die Jungen „langsam in die Arbeit ein- und die Alten langsam aus ihr auslaufen“. Klappen kann das aber nur, wenn die Bundesanstalt für Arbeit weiterhin Kosten für Vorruhestand und Fortbildung übernimmt. Die bereits vom Bundestag beschlossene Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes, die gerade dies nicht mehr vorsieht, will die IG- Metall daher auch noch vom Bundesrat gestoppt sehen. „Wenn das Arbeitsförderungsgesetz nicht wieder geändert wird, können die Verhandlungen mit VW durchaus scheitern“, sagt Jürgen Peters. Die Gewerkschaft will eine Einigung, hat doch Volkswagen mit dem Vorschlag, Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung zu vermeiden, ihre ureigenste Forderung aufgenommen. „Bei der Arbeitszeitverkürzung sind wir jetzt das Zugpferd“, so sagt es auch mit gewissem Stolz Vertrauensmann Siegfried List, „alle schielen auf uns – aber das Ganze ist auch eine gefährliche Sache.“

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