: Was der Rezensent nicht kennt, frißt er nicht
■ betr.: „Wie geklonte Margarethen im Bett“, (Kritik zu Marthalers „Faust“-Inszenierung in Ham burg), taz vom 8.11.93
Könnte es sein, daß Herr Puschmann jener Schreiberling war, der im Theater neben mir saß und gerade noch den Prolog und den Furz mitkriegte, einschlief und nur dann erwachte, wenn ich mahnend grunzte? Ich kann's schon mal grundsätzlich nicht leiden, wenn die KritikerInnen ihre Meinung äußern, ehe sie den Sachverhalt nach ihrer Wahrnehmung beschreiben. Allein daran kann eineR nämlich ganz gut ablesen, wie genau hingeschaut wird.
Es ärgert mich, daß in der Kritik so ein zynischer, arroganter Schlag gegen Marthalers Alkoholismus geführt wird (ich verteidige ihn nicht, weil ich selber saufe, sondern ich saufe selber nicht und kenne Marthaler auch nicht), der mit der Inszenierung nicht nur nichts zu tun hat, sondern der, wenn er sich überhaupt durchschlägt, dann dazu führt, daß die Ausweglosigkeit menschlichen Trachtens einem endlosen Rausch gleicht, aus dem man gelegentlich hochschreckt, um nach einem Sinn oder mehreren zu fragen. Marthaler hat das ewig Deutsche und das deutsche Dilemma so absolut genau beobachtet und im Faust herauskristallisiert, daß es einem schon unheimlich werden kann. Ist die Idee der künstlichen Menschenproduktion nicht in der Nazi-Zeit ganz besonders intensiv behandelt worden („Lebensborn“ und andere Experimente)? Ertappt sich nicht JedeR ZuschauerIn dabei, wie diese so deutschen Lieder eine kleine Wohltat, ein kleiner Lacher in der ausweglosen Wiederholung von Texten und Ereignissen sind? Da wo man singt, da laß dich nieder, ach genau.
Die Walpurgisnacht muß nun einmal ausnahmsweise nicht für Regisseurphantasien aller Art herhalten. Er verfällt nicht dem Klischee der vollbusigen, wilden Hexen, die herumsauen und in ihrer ewigen Art Männer verführen. Nein, stilisiert zur strengen symbolischen Handbewegung, zum trägen Auskleiden, zur starren Verführungspose diesmal der Männer gerät die Walpurgisnacht zur Enthüllung, die Manipulation der Materie, der Sinnesrausch, alles nur noch eine Hülle, in der nach all den Jahrtausenden menschlicher Existenz nichts mehr steckt. Die Erlösung bleibt aus, nichts wird geklärt, der Wissenschaftler, der ein Pianist ist und ein Mephisto, schafft die Flucht aus dem hermetisch abgeriegelten Raum ebensowenig, wie die ZuschauerInnen und KritikerInnen sie schaffen, selbst wenn sie gehen dürfen. We are all prisoners of our own device, haben die Eagles mal gesungen (Hotel California), was soviel heißt wie: Wir sind alle Gefangene unserer eigenen Mittel und Möglichkeiten. Und diese Mittel und Möglichkeiten werden von Marthaler bis zur Schmerzgrenze wiederholt, abgebrochen, neu versucht. Vielleicht gefällt mir ja einfach auch, daß die Frauen so bei sich sind. Wie junge Hunde liegen sie beieinander, ungestört durch männliche Attacken, bewegen sich auf die Welt zu, wie sie Lust haben, und ziehen sich zurück in die einzig „gemütliche“ Ecke auf der Bühne. Marthalers Faust ist das erste Bühnenstück seit langer Zeit, das mich vom Sitz gerissen hat. Die großen Namen unter den SchauspielerInnen produzieren sich nicht als Rampensäue, sondern fügen sich ein in den Mechanismus dieser choreographierten Vernetzung von Sprache, Geräuschen, Musik mit Zeit und Raum. In Abwandlung eines Achternbusch-Zitats möchte ich Herrn Puschmann zurufen: Kritiker, Du hast keine Chance, warum nutzt Du sie nicht? Luisa Francia, Ambach
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