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Unter Gummihäuten

■ "Herbstfeuer", eine Dokumentation über Sexualität und Wahrheit, heute um 23 Uhr, ARD

In einem seiner Filme wird Woody Allen gefragt, ob Sex eine schmutzige Sache sei: „Wenn man es richtig macht, schon“, sagt der Sachverständige darauf. Das könnte als Motto über Mischka Popps und Thomas Bergmanns „Herzfeuer“ stehen. In ihrer neuen Dokumentation befragten die Frankfurter Herbstmeister deutsche Bürger, was sie und wie sie es unter der Bettdecke treiben. Herausgekommen sind weder „Schulmädchenreport“ noch sozialpädagogische Doktorspiele. Der Film geht unter die Lack-, Leder- oder Gummihaut. Und das obwohl – oder weil – Erotik und Sexualität nicht als plakative Anmacher gleißen. 13 Menschen bleiben weitgehend bekleidet und erzählen in 104 Minuten Geschichten, gegen die die karnickelerotischen Peepshows Marke RTL frigide wirken wie ein Demo-Video der Zeugen Jehovas. Der Film setzt auf die „Dramaturgie des gesprochenen Wortes“: ein verträumter Schlosser, der eine Junkie-Hure liebt, ein Ehepaar in Ganzkörper-Gummianzügen, das wie zwei Froschmänner aus der mentalen Tiefsee der Latexliebe berichtet. Ein Oral-Fetischist, genannt „Die Zunge“: „Ich habe sie drei Stunden geleckt.“ Ferner ein kühler, verbitterter Rechner, der die Vorteile der käuflichen Liebe wie ein Buchhalter kalkuliert. Die zu Wort Kommenden sind allerdings keine Creeps. Der unverwechselbare Kick eines Popp-Bergmann-Dokumentarfilms rührt daher, daß die beiden Frankfurter jene ganz „normalen“ Reden ihrer Interviewpartner nie aus ihrem Kontext herauslösen: Die Aufrichtigkeit gegenüber dem Thema zahlen die Befragten durch Authentizität zurück. Sie geben etwas mehr preis, als man sonst erfährt. Da reden Menschen nicht, weil sie auf dem „heißen Stuhl“ sitzen, sondern weil es hier „zur Sache“ geht.

Obwohl die schrägsten Sexualpraktiken und Einstellungen zur Sprache kommen, wird die Differenz zwischen „normal“ und „abnormal“ zusehends brüchig. Die Frage „Kann denn Liebe Sünde sein?“ erhält an einer Stelle des Films eine verblüffend neue Antwort. Ein blutjunges Pärchen, bei dem die Welt noch so in Ordnung ist, wie wir sie aus der Werbung kennen, fällt im Chor der alltäglichen Abarten plötzlich aus dem Rahmen. Keusche Sätze über Zärtlichkeit, Ikea-Sex und positive Zukunftsplanung klingen in diesem Kontext seltsam obszön: „Mein Freund geht in die Gastronomie, und ich mache die Buchhaltung.“ Erfrischend jugendlich wirkt dagegen die Beteuerung eines Nekro-Erotikers: „Die älteste war 86.“

Obgleich die beiden Frankfurter seit geraumer Zeit Zelluloid belichten, erhielten sie erst für ihre Agrar-Arie „Vom Flachlegen und Aufstehen“ (HR, 1986), einen Film über Verwüstung des Ackerlands durch fragwürdige Flurbereinigung, den Adolf-Grimme-Preis in Silber. 1988 folgte „Die Potemkinsche Stadt“ (Pilotfilm). Dokumentiert werden Leben und Überleben in verslumenden europäischen Vorstädten. „Giftzwerge. Mit bösem Gruß vom Nachbarn“ (Pilotfilm/SR, 1990) hat Popp/ Bergmann schließlich den Ruf als Kriegsberichterstatter von der urbanen Front eingebracht. „Giftzwerge“ ist eine realsatirische Psychopathologie des Alltags, über den sublimierten Gartenzaun- Krieg als genuin deutsche Freizeitbeschäftigung.

Nicht minder leidenschaftlich geht es zu in „Großwildjagd“ (Pilotfilm/HR, 1991). Das Großwild ist Heinz Steinhart. Der „Pforzheimer Hochstapler“ hält mit 400 vergeigten Millionen den Finanzbetrug-Rekord der Nachkriegszeit. Popp/Bergmann changieren zwischen einfühlsamem psychologischem Portrait und realsatirischem „Wirtschaftskrimi“ auf Monthy- Python-Niveau. „Die Heimwerker – Ein Bericht aus deutschen Höhlen“ (Pilotfilm/SR, 1992) beschließt die Trilogie über alltäglichen Irrsinn. Popp/Bergmann führten Fachgespräche im Hobbykeller. Als urbane Höhlenforscher erkunden sie das in Nut und Feder rundumverschalte deutsche Eigenheim. Was sie dort vorfinden, sind Werkbank-Junkies, die sich „mit der Bosch-Kombi zu sich selbst durchbohren wollen“ (Die Zeit).

Damit die reinigende Klarheit der Popp/Bergmann-Filme auch beim schwierigen Thema Sexualität/Erotik rüberkommt, mußten die Frankfurter ihr Konzept diesmal weiterentwickeln. In „Herbstfeuer“, den übrigens der mehrfache Preisträger Peter Przygodda geschnitten hat, haben sich die beiden Filmemacher einen schmucklos diskreten Blick verordnet. Den asketischen Stil nennt Thomas Bergmann „japanisch, mit kleinen Frechheiten“. Manfred Riepe

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