Bosniens Nabelschnur ist jetzt durchtrennt

Schon jetzt hungern die Menschen in Bosnien, was soll erst werden, wenn es dort richtig wintert? Seit UNO-Chef Butros Ghali Hilfskonvois nach Zentralbosnien stoppen ließ, droht Hunderttausenden der Hungertod. Verzweifelt überfallen die Menschen LKWs und Essendepots – und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel.

Die Hölle beginnt um 8 Uhr 30. Maschinengewehrkugeln treffen die LKWs eines dänischen Konvois der UNO-Hilfsorganisation UNHCR. Ein Fahrer ist sofort tot. Ein anderer wird verwundet, neun dänische Soldaten ebenso, die den Konvoi schützen sollten.

Noch sind die Untersuchungen über die Schießerei westlich der zentralbosnischen Stadt Vitez nicht abgeschlossen. Waren es die Kämpfer des Kroatischen Verteidigungsrates (HVO) oder Soldaten der Bosnischen Armee (Armija RBiH)? „Normalerweise“, so ein holländischer Fahrer, der die Strecke kennt, „hören beide Kriegsparteien mit dem Schießen auf, wenn ein Konvoi versucht durchzufahren.“ Die Paßstraße, die sich durch das unwegsame Gelände zwischen den Städten Novi Travnik und Gornji Vakuf schlängelt, zählt zu den neuralgischen Stellen für Hilfslieferungen, die nach Zentralbosnien führen: Sie liegt im Kampfgebiet. Und doch stellt diese Straße, seitdem die Strecke von Mostar nach Jablanica und Kiseljak nach der Sprengung einer Brücke im Mai dieses Jahres unpassierbar geworden ist, die wichtigste Versorgungslinie für die rund 1,5 Millionen Menschen in den Regionen Zenica und Tuzla dar. An ihr hängt das Leben dieser Menschen.

Doch mit dem Entscheid des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Butros Ghali, vom 26. Oktober, die Hilfslieferungen einzustellen, „bis die Kriegsparteien die Sicherheit der Konvois garantieren“, ist diese Nabelschnur zerschnitten. Die nach der berühmten Luftbrücke in die Westsektoren Berlins im Jahre 1948 größte Hilfsaktion der Internationalen Gemeinschaft in Europa ist damit ins Stocken geraten. Immerhin gelang es dem UNHCR noch in diesem Oktober von den Basislagern in Split, Metkovic und Belgrad aus 7.810 Tonnen Lebensmittel in die Regionen Zenica und Tuzla zu bringen. Während aber in Sarajevo mit 6.323 Tonnen das Soll von 7.421 Tonnen fast erreicht war, blieb die monatlich erforderliche Menge in Zenica und Tuzla, die auf 12.589 Tonnen berechnet ist, jedoch um fast 5.000 Tonnen weit unterschritten. Und mit der Blockierung der Lieferungen von Ersatzteilen und Ausrüstung für die Bergwerke und Kraftwerke der Region durch den kroatischen HVO und die Behörden der serbischen Seite bleiben die Elektrizitätsversorgung und die Fernheizungssysteme außer Betrieb. Dabei könnten die in Kakanj bei Zenica und in Tuzla befindlichen Großkraftwerke verhältnismäßig leicht wieder in Gang gesetzt werden. Dafür stehen in der kroatischen Stadt Metkovic schon 400 Tonnen Material bereit. „Der Mangel an Lebensmitteln und der Mangel an Energie zusammengenommen wird angesichts der hier in der Region üblichen Kälte des Winters zunächst vor allem Kindern und alten Leuten zum Verhängnis werden“, befürchtet denn auch Janko Zlodre vom UNHCR- Büro in der dalmatinischen Hafenstadt Split.

Die Versorgungslage war schon im Oktober in Zentral- und Ostbosnien dramatisch. Am 15. Oktober blockierten 300 Frauen und Kinder einen Konvoi. Als die Fahrzeuge stoppten, versuchte die Menge die Laderäume der Fahrzeuge zu öffnen, um an die Lebensmittel heranzukommen. Drei Tage später versammelten sich über 100 Menschen vor dem zentralen Warenlager in Zenica und forderten Lebensmittel. 600 Meter vom Warenhaus entfernt klauten ein paar Jugendliche zehn Mehlsäcke aus den Fahrzeugen. An der Straße nach Visoko forderten mehrere hundert Menschen Lebensmittel von den vorbeifahrenden Konvois.

„Lebensmittel einkaufen ist fast unmöglich“

In den folgenden Tagen kam es immer wieder zu ähnlichen Zwischenfällen. Am 28. Oktober demonstrierten 42 verwundete Soldaten vor dem UNHCR-Büro in Zenica und forderten Essen. Auch die Fahrer der privaten Hilfsorganisationen berichteten von überfallenen Konvois und von Warenlagern, in die eingebrochen wurde. Die Polizei ging mehrmals mit Tränengas gegen die Menge vor. Ein Junge aus Zenica soll am 20. Oktober sogar von UNO-Soldaten erschossen worden sein, als er auf einen Lastwagen kletterte. „Es ist ein Ausdruck allerhöchster Verzweiflung, was da passierte“, erklärt sich Esther Bidhendi, eine Mitarbeiterin von Care-Österreich, dieses Phänomen. „Was sollen die Menschen machen? Die kärglichen Rationen bekämpfen das Hungergefühl nicht, Lebensmittel auf dem freien Markt einzukaufen ist für die meisten unmöglich.“ Kaffee sei unerschwinglich geworden, 1 Pfund kostete 150, ein Liter Speiseöl 65 Mark. „Und diese Waren sind vermutlich auch nur erhältlich, weil eine bosnische Mafia sich mit Gewalt Zugang zu den Warenhäusern verschafft oder mit ähnlichen Leuten der Kriegsgegner Handel treibt.“

Auch Jerrie Hulme vom UNHCR-Büro in Medjugorje sieht für die Menschen in Zentralbosnien schwarz. Nur wenn das Sicherheitsproblem für die Konvois gelöst sei, wäre an die Wiederaufnahme der Lieferungen zu denken. „Wir könnten sofort liefern, aber wer will unter diesen Umständen als Fahrer die Gefahren auf sich nehmen?“ Als Alterantive zur Lieferung über die Straßen sei nur die Eröffnung des Flughafens in Tuzla möglich. „Doch das hängt von der serbischen Seite ab.“ Die Serben könnten mit ihrer Artillerie die Landebahn erreichen.

Butros Ghalis Bedingung, alle drei Kriegsparteien müßten die Sicherheit der Transporte garantieren, sei unrealistisch, sagen viele Mitglieder der Hilfsorganisationen. „Zwei Kriegsparteien haben ja ein Interesse daran, daß die Lieferungen nicht ihr Ziel erreichen“, heißt es. Denn die Entscheidungen bezüglich der Politik der UNO würden ja nicht vor Ort getroffen. Vielleicht wolle Butros Ghali so die bosnische Seite dazu zwingen, dem Teilungsplan aus Genf doch noch zuzustimmen, geben manche zu bedenken. Die serbische Seite rechnete sich aus, die Zulassung von Hilfslieferungen über ihr Gebiet an die Bedingung zu knüpfen, die Sanktionen gegenüber Serbien dann zu lockern. Und für die kroatische Seite sei die Knebelung Zentralbosniens die Möglichkeit, die Niederlagen im Kriege wieder wettzumachen. Zwar hätte ein örtlicher Kommandant der bosnischen Seite die Schuld zunächst auf seine Kappe genommen. Doch seien bosnische Armee und Regierung daran interessiert, daß die Lieferungen schleunigst wieder aufgenommen würden. Erich Rathfelder, Split