: Geteilte Drogenpolitik in Europa
■ Wer in Amsterdam Methadon bekommt, muß in Mailand in den Knast
Amsterdam (taz) – In Schweden werden sie von Sozialarbeitern vor den Richter geschleppt, in Frankreich als Psychiatriefälle behandelt und in Italien ins Gefängnis gesteckt: Junkies in Europa. Mehr als 800.000 Männer und Frauen in den EG-Ländern und Skandinavien brauchen täglich mindestens 180 Millionen Mark, um ihre Sucht zu finanzieren. Ihre Behandlung im vereinten Europa könnte kaum unterschiedlicher sein.
Mit dieser Erkenntnis kehrten die niederländischen Journalisten Kurt van Es und Frans Bosman von einer Rundreise durch neun Länder zurück. Ihre niederschmetternden Resultate: Fünf verschiedene EG-Kommissionen und -Ausschüsse sowie Hunderte von Kongressen und ein anhaltender Informationstourismus von Drogenexperten hätten bisher nicht zu einer Annäherung der Strategien beigetragen. Damit nicht genug, ist auch innerhalb der Staaten die Drogenpolitik inkohärent. Bekommen Junkies in Liverpool Heroin auf Rezept, ist es in London kaum möglich, einen Arzt zu finden, der Methadon verschreibt. 13 verschiedene Distrikte sind in England für gesundheitliche Versorgung zuständig; die Ministerien für Gesundheit, Soziales, Inneres und Bildung fahren darüber hinaus auch alle ihren eigenen Kurs. In der Schweiz differieren Hilfsangebote von Kanton zu Kanton; in Paris kommt es vor, daß Junkies, die in der Apotheke Spritzen erhalten, beim Hinausgehen von der Polizei aufgegriffen werden.
Seit vor 25 Jahren die erste Drogengeneration die Plätze der Großstädte bezog, haben Drogen auch die entlegensten Winkel in Europa erreicht. Dem Genuß von Haschisch und Marihuana folgten LSD, Speed, Heroin, Kokain und Designer-Drogen. Hängen bleiben bis heute die meisten an Heroin. Doch auch Kokain, jahrelang als relativ ungefährliche „Freizeitdroge“ gehandelt, wird stärker zum Problem: In Rotterdam sind inzwischen 900 Kokainabhängige registriert; das ist immerhin ein Drittel der Anzahl Heroinabhängiger. Beide Drogen sind billiger und verfügbarer geworden.
Die Zahl Drogenabhängiger und -toter steigt. Nur Schweden und die Niederlande behaupten noch, das Problem im Griff zu haben. Unterschiedlicher jedoch könnte die Drogenpolitik in zwei Ländern nicht sein: Wird Drogengebrauch in den Niederlanden weitgehend toleriert, ist in Schweden von Cannabis bis Heroin alles verboten. Als einziger Ausweg für die Gebraucher gilt der Entzug – notfalls unter Zwang: Aufgegriffene Junkies haben die Wahl zwischen drei Monaten Gefängnis oder einer Therapie. Auch Sozialarbeiter fungieren oft als verlängerter Arm der Polizei. Auf einer anderen Ebene wird gegen die Verbreitung von HIV wenig getan: Saubere Spritzen gibt es nur auf Rezept. Der Erfolg ist mäßig: Auf vier Millionen Schweden kommen immerhin 12.000 bis 14.000 Junkies. In den Niederlanden sollen Abhängige unter dem Motto der Schmerzbegrenzung so gesund wie möglich gehalten werden. Mit Methadon- und Spritzenaustauschprogrammen soll auch denen, die nicht clean werden wollen, ein halbwegs stabiles Leben ermöglicht werden. Die Quasi-Legalisierung von Haschisch und Marihuana soll die Märkte für harte und weiche Drogen getrennt halten. Die beiden Journalisten dämpfen jedoch die Euphorie: Die Trennung der Märkte sei nicht wirklich gelungen, besonders unter Marokkanern und „Illegalen“ nehme die Zahl der Junkies wieder zu.
In Frankreich sind Drogen generell verboten. Die toleranten Nachbarn sind Paris ein Dorn im Auge: Wer Drogen nimmt, hat nach Ansicht französischer PolitikerInnen ein individuelles Problem und gehört in psychiatrische Behandlung. Drei Methadonprogramme versorgen ganze 55 Junkies; die Anzahl getauschter Spritzen liegt unter zwei Prozent derer in den Niederlanden. In den Straßen hinter dem Moulin Rouge in Paris reinigen freiwillige Helfer gebrauchte Spritzen.
In Italien war die liberale Drogenpolitik vor drei Jahren zu Ende: Die Vergabe von Morphium und Methadon ist stark zurückgegangen; Drogenabhängige findet man üblicherweise im Knast. Ein Gramm Heroin kann leicht ein Jahr in einer Zelle bedeuten, die man dann wegen Überfüllung der Gefängnisse mit bis zu acht anderen teilen muß. In den letzten Jahren ist die Zahl der Gefangenen um 35 Prozent auf etwa 45.000 gestiegen. Schätzungen über die Zahl Drogenabhängiger liegen zwischen 150.000 und 300.000.
Während die Politik in den meisten Ländern durch panikartige Reaktionen bestimmt sei, so die beiden Niederländer, steige die Zahl der HIV-Infektionen und der Drogentoten ständig. Die Rate der HIV-Infizierten unter Drogenabhängigen mit 60 Prozent und mehr in Spanien und Italien wird nur noch von New York übertroffen.
Parallel zum Scheitern staatlicher Ansätze hätten die Drogenkartelle den Markt unter sich aufgeteilt und stünden bereit, auch Osteuropa in Angriff zu nehmen. Schließlich wächst in Kasachstan beinahe ebensoviel Marihuana wie in Marokko. Polen mausert sich zum Amphetaminproduzenten und hat auf dem schwedischen Markt die niederländischen Anbieter bereits verdrängt.
Auch für Junkies und Kleindealer sind die Grenzen Europas offen: Tausende kommen täglich in die Niederlande, um nicht nur an billigere Drogen, sondern auch an Spritzen zu kommen – die sie zu Hause wieder verkaufen.
Immer noch konterkarieren sich Hilfsangebote und Polizeieinsätze. Drogenpolitik ist von Moral und Ideologie bestimmt, konstatieren die Autoren. Ihrer Ansicht nach liegt die Lösung nicht in immer mehr Kongressen und Kommissionen, sondern in praktischer Zusammenarbeit: So ist die Stadt Amsterdam dabei, ein Hilfesystem in Prag aufzubauen. Die Verbotspolitik betrachten die Autoren als gescheitert. Wer für Legalisierung plädiere, müsse aber auch sehen, daß auch der Alkoholkonsum nach Aufhebung der Prohibition nicht abgenommen habe. Hilfsmaßnahmen seien vonnöten – Methadon, Heroin auf Rezept, Druckräume und Entkriminalisierung der Abhängigen –, um den eigentlichen Opfern des „war on drugs“, den Abhängigen, zu einem lebenswerten Leben zu verhelfen. Jeannette Goddar
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