: Ist Widerstand gegen rechtswidrigen Polizeieinsatz strafbar?
■ Der Prozeß wegen der Vorfälle am Flughafen der Überführung der Möllner Mordopfer wurde fortgesetzt
Das Hamburger Amtsgericht muß sich abermals mit den Vorgängen am Flughafen anläßlich der Überführung der Möllner Mordopfer im vorigen Jahr befassen. Dieses Mal sitzt der Türke Orhan Calisir auf der Anklagebank. Ihm wird Gefangenenbefreiung, Widerstand und Körperverletzung vorgeworfen: Er soll versucht haben, einen festgenommenen Türken aus den Händen eines Polizeibeamten „wegzureißen“ und dann „um sich getreten“ haben.
Das hatte damals für heftige Schlagzeilen gesorgt. Mehrere hundert Türken hatten sich am 27. November 1992 vor der Charterhalle des Flughafens versammelt, um den Toten von Mölln nach türkischem Brauch die letzte Ehre zu erweisen. Obwohl die Veranstaltung ausdrücklich von der Flughafengesellschaft erlaubt worden war, hatte die Polizei eigenmächtig den Trauergästen den Zutritt verwehrt. Grund: Der Staatsschutz hatte die (falsche) Meldung verbreitet, die kurdische PKK wolle die Särge klauen und den Flughafen lahmlegen. Erst nach mehreren Schlagstockeinsätzen bemerkte der Einsatzleiter den Fehler und ließ die Trauergäste in die Charterhalle.
Dieses Eingeständnis hielt allerdings die BeamtInnen des Zugs „954“ der Bereitschaftspolizei nicht davon ab, weiter Jagd auf angebliche „Störer“ zu machen. Und so kam es, daß Zivilfahnder mit gezogenen Pistolen den VW-Bus einer türkischen Familie stürmten, um einen Mann festzunehmen, der von „954“-BeamtInnen einer Straftat bezichtigt wurde. Im Verlauf dieser Rangelei soll sich der verhandelte Vorfall abgespielt haben.
Die Kernfrage: Kann eine Widerstandshandlung strafbar sein, wenn der Polizeieinsatz rechtswidrig ist? Verteidiger Martin Lembke meint „nein“ und möchte dazu diverse Zeugen hören. Staatsanwalt Peter Bunners meint „ja“, denn es komme nicht darauf an, ob ein Einsatz objektiv unrechtmäßig sei. Vielmehr sei ein Polizist generell „befugt“, jemanden festzunehmen. Bereits gestern kam die Anklage kräftig ins Wanken: „954“-Beamter Michael Minute, der getreten worden sein soll: „Daran kann ich mich nicht erinnern. Wenn er gezielt auf mich getreten hätte, hätte ich eine Anzeige gemacht.“ Und auch Kollege Thomas-Jens Vogel, der angeblich von Orhan Calisir angefallen wurde, um den Gefangenen zu befreien: „Kann ich mich nicht dran erinnern.“
Nach dem Auftritt der beiden Hauptbelastungszeugen zeigte sich Bunners genervt: „Es ist schon merkwürdig, daß sich die Zeugen an die entscheidenden Sachen nicht erinnern.“ Bei der anschließenden Dealerei blieb der Ankläger jedoch hart. Verteidiger Lembke hatte vorgeschlagen, das Verfahren auf Kosten der Staatskasse einzustellen, um sich so eine aufwendige Beweisaufnahme über die Rechtmäßigkeit der Polizeiaktion zu ersparen. Mit dieser Frage wird sich ohnehin am 1. Dezember das Verwaltungsgericht befassen. Und daher signalisierte Amtsrichterin Ute Ebert Zustimmung: „Ich befürworte eine Einstellung.“ Aber Bunners lehnte kategorisch ab, möchte noch weitere Zeugen hören: „Tschuldigung, wenn ich ein Brett vorm Kopf habe.“ Der Prozeß wird am 22. November (11 Uhr) fortgesetzt.
Kai von Appen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen