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Pathologisches Wandern

■ Notizen und Fotografien des manischen Reisenden Bruce Chatwin

Es muß Anfang der 70er Jahre gewesen sein, als man die Beduinen in Somalia umerziehen wollte, deren traditionelles Wanderleben durch willkürliche Grenzziehungen der ehemaligen Kolonialmächte zerstört worden war. Man wollte Fischer aus ihnen machen. Die Entwicklungshilfe-Millionen wurden allerdings in den Wüstensand gesetzt, weil die Beduinen um keinen Preis ins Wasser gehen wollten. Die Entwicklungspolitiker waren ohne ethnologisches Feingefühl vorgegangen. Vielleicht hätten sie den Reisenden Bruce Chatwin fragen sollen. Der beschäftigte sich zu dieser Zeit schon mehrere Jahre eingehend mit dem Phänomen des Nomadentums und weitergehend mit der Unruhe des Menschen als anthropologische Konstante, was natürlich auch die Beweggründe seines Reisens betraf. Auf einen afrikanischen Nomadenstamm hatte er den Begriff „Pathologisches Wandern“ gemünzt; er mag genauso für ihn selber gelten.

In der Zeit, als die Entwicklungspolitiker sich als Bademeister versuchten, war er gerade in Westafrika unterwegs. Mit vielen Erscheinungsformen des modernen Afrika in den Städten konnte er sich nicht anfreunden, während er sich in den Wüstenregionen der Beduinen wohlfühlte. In Mauretanien schrieb er in eines seiner Notizbücher: „Die Nomaden strömten in die Städte, angezogen von Gerüchten, bei den Bergwerksgesellschaften und beim Bau der neuen Hauptstadt gebe es Arbeit. Daher dieser bidonville von Nomaden, die, wie Jakob und seine Söhne, durch Hungersnot zur Seßhaftigkeit gezwungen wurden.“ Und: „Die Einstellung der französischen Ingenieure und Techniker zu den von ihnen unterjochten Völkern – und sie sind noch immer unterjochte Völker – ist wahrhaftig nicht besser als die der in Vietnam kämpfenden Amerikaner – nur praktischer.“ Für Chatwin waren solche Notizen Arbeitsgrundlage und Stoff für seine Bücher. Wenn Francis Wyndham und David King jetzt posthum eine Auswahl davon herausgeben, orientiert an drei Reiserouten (zwei in Afrika, eine in Afghanistan), bekommt man zum ersten Mal auch einen Einblick in Chatwins Arbeitsweise.

Er schrieb schnell – auf Reisen zumindest – und wollte alles festhalten, um sich für die spätere Arbeit möglichst viel Material zu sichern. Additive Reihungen seiner Eindrücke sind daher nicht selten, so daß man zwar immer wieder auf unerwartete Pointen stößt (etwa wenn er mitten in einer Marktsituation nicht umhin kann, darauf hinzuweisen, das Kamel habe eben doch das „eleganteste Arschloch“ aller ihm bekannten Tiere), sich allerdings auch dabei ertappt, über Chatwins Notizen hinwegzuhuschen, die eigentlich weiterverarbeitet, komprimiert und zu kleinen Szenen verdichtet werden müßten.

Der Chatwin, den man aus den Reiseromanen kennt, war mit weit geöffneten Augen unterwegs, sah fremde Menschen, Landschaften, Skurrilitäten, absurde Situationen und bewahrte dabei den Blick fürs Wesentliche. In den Notizen nun lernt man etwas kennen, das in seinen Büchern eher im Hintergrund bleibt: Randbedingungen und Beschwerlichkeiten des Reisens, eigene Befindlichkeiten und hin und wieder auch Aversionen gegen afrikanische Kleingauner. Chatwin war, wie sich zeigt, keine Mutter Theresa mit offenem Herzen für alles und jeden.

Am interessantesten sind seine Notate zur ersten Route im aufwendig gestalteten Text-Bildband. Sie führte durch Mauretanien, von wo Chatwin auch die schönsten Fotografien mitbrachte. Daß er mit einer Leica unterwegs war, wußten wenige; daß der bei Sotheby's geschulte Spezialist für moderne Kunst auch ein hervorragender Fotograf sein könnte, ahnte man allerdings schon vor zehn Jahren, als „In Patagonien“ mit einem Mittelteil von Schwarzweiß-Fotografien erschien. Jetzt ist zu sehen, welch ungeheures Auge für Farben, Strukturen und den Aufbau eines Bildes er hatte. Westafrika muß für ihn in dieser Hinsicht eine wahre Traumregion gewesen sein. Er fotografierte Gebäude, Zelte, geometrische Strukturen von Hauseingängen oder etwa eine am Strand gelagerte Piroge. Oft gilt für seine Bildkompositionen, was er angesichts einer Collage von Buden aus Holz und Wellblech notierte: „Rauschenberg könnte es nicht besser machen.“ Jürgen Berger

Bruce Chatwin: „Auf Reisen“. Herausgegeben von David King und Francis Wyndham. Aus dem Englischen von Anna Kamp. Carl Hanser Verlag, 160 Seiten, geb., zahlreiche Fotos, 58DM.

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