■ Der Historiker Reinhart Koselleck kritisiert die Gestaltung der „Neuen Wache“ als nationale Gedenkstätte der Deutschen
: „Mies, medioker und provinziell“

taz: Der Helmut Kohl Bitburgs, der Meister symbolischer Politik, kommt plötzlich mit einer Kollwitz-Plastik daher und schafft es, selbst viele Linke und Pazifisten zu überrumpeln. Was treibt den Kanzler Ihrer Meinung nach um?

Reinhart Koselleck: Für ihn ist das sicherlich auch ein Wiedergutmachungsakt. Die Kollwitz war verfemt. Er sieht in ihr wohl eine große Künstlerin. Subjektiv muß man ihm dies zugute halten. Objektiv schaut er natürlich auf die Wählerschaft. Er will die konservativen, die mehr auf den Soldatentod hin orientierten Kräfte der Gesellschaft damit ansprechen. Denn das Bild der um den toten Sohn trauernden Mutter verharrt ästhetisch in den 30er Jahren. Die Verbände der Verfolgten hat er erst gar nicht befragt.

Steckt hinter Kohls Entscheid nicht etwas ganz Banales: Eine eingängige Symbolik für die kleinen Leute, um sie ins neue Deutschland zu integrieren?

Das ist ja auch Christoph Stölzls (Direktor des Historischen Museums in Berlin) Behauptung, der sagte, das Denkmal werde sich durch Abstimmung der Füße durchsetzen. Er benutzt die Flüchtlings-, die Fluchtmetapher für die Besucherei in der Schinkel- Wache. Das ärgerliche ist eben, daß damit die Bundesrepublik auf dem Bewußtseinsstand der Vorkriegszeit stehenbleibt. Man hätte mehr Mut und Risikofreude an den Tag legen müssen. Auch das Vietnam-Denkmal in den USA hatte anfänglich keine Zustimmung, und doch hat es sich als Mahnmal durchgesetzt.

Was ist für Sie das größere Problem mit der „Neuen Wache“: die Inschrift oder die Skulptur?

Beide wiegen gleich schwer. Daß die Inschrift von Weizsäckers Rede 1985 an der Außenwand steht, halte ich für ganz problematisch. Man kann nicht eine Gedenkhalle einrichten und die entscheidende Formel außen anbringen. Und innen steht tatsächlich wieder „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“. Fürchterlich! Das ist aber offenbar die bundesrepublikanische Formel, gegen die man nichts mehr ausrichten kann: Sie steht auf allen Friedhöfen, auf allen Denkmälern. Es ist die Verlogenheit der Deutschen, ihre Vergangenheit dadurch nicht zu reflektieren, daß das aktive Opfer mit demselben Wort unterschwellig zum passiven erklärt wird. Die Soldaten, die freiwillig in den Krieg zogen, werden zum Opfer des Faschismus. Ambivalenzen werden verschliffen – eine verlogene Form des nichtreflektierten Totengedenkens.

Es ist, auch im Zusammenhang der Polemik über die Neue Wache, viel vom Erstarken nationalistischer Tendenzen und von der Suche nach „nationaler Identität“ die Rede.

Was ist denn heute nationalistisch? Die Deutschen haben gar kein nationales Selbstbewußtsein. Die Suche nach Identität halte ich selbst für eine schiefe Fragestellung, weil sie sich nur in der Kommunikation mit Nichtidentitäten indirekt einstellt. Und das ist auch beim Denkmal der Punkt: Daß man ein nichtnationales, nichtreligiöses Denkmal hinstellt, das kommunikativ anschlußfähig ist an die Nachbarn, deren Opfer mitgedacht werden müssen in Deutschland. Wir können nicht so tun, als gäbe es nur deutsche Soldaten, die umgekommen sind. Es war ein nicht national begrenzbares Massenmorden. Wenn wir dies wissen, wenn wir dies repräsentativ darstellen können, dann sind wir eine Nation, die nicht über ihre Identität sozusagen sich selbst definiert.

Man nimmt die Schuldanteile auf, und überführt sie repräsentativ in die politische Verantwortung, ohne Identität zu suchen. Man kann ja nicht sagen, daß wir unsere Identität daran festhalten, daß wir uns selbst als die Mörder der Juden und uns weiter als Mörder definieren. Wir müssen sagen: Wir sind verantwortlich für das, was wir gemacht haben. Unsere Identität ist aber nicht die von Mördern. Das ist verantwortungsethisch zu übernehmen, aber kein Identitätsangebot. Daraus entwickelt sich kein positives Selbstbewußtsein. Wir sollten es auch gar nicht suchen, sondern in der Kommunikation mit den Nachbarn die jeweilige Selbstwahrnehmung hinreichend begründen. Das ist eine Frage der pragmatischen Politik und nicht der Ideologie. Ich mache die Identitätsdebatte nicht mit, das ist eine falsche Fragestellung.

Worin würde sich dann Ihrer Meinung nach Identität erfüllen?

Wir sollten das tun, was verfassungsgemäß und den politischen Programmen der Grundrechte entsprechend angemessen zu tun ist. Identität erfüllt sich etwa darin, daß es eine polizeilich strenge Kontrolle rechtsradikaler Minoritäten gibt, ein Programm, das nach der Weimarer Erfahrung unbedingt erfüllt werden muß. Mein Verdacht ist, daß die Regierung deswegen so weich blieb, weil sie selbst durch die Fremdenmorde nicht persönlich gefährdet wurde. Bei der RAF gab es sofort eine radikale Verfolgung, weil die Politiker selbst Opfer waren. Statt sich sofort mit den Türken zu identifizieren, tut man es mit sich!

Warum haben Sie sich mit solcher Verve in die Mahnwachen- Debatte geworfen?

Mein persönliches Engagement erklärt sich auch daraus, daß ich seit 20 Jahren Kriegerdenkmäler international vergleichend untersuche. Der Vergleich mit den anderen Ländern zeigt, wie andere Nationen ihren Totenkult pflegen und wie mies und medioker, provinziell und sentimental bei uns die historische Wahrheit unterdrückt wird, die anzuerkennen Teil unserer Selbstdefinition sein müßte. Das hat mich geärgert, weil es bessere Möglichkeiten gibt, die uns weiterführen können.

Und dennoch: Wie kam es, daß Kohl so erfolgreich Zeichen setzen konnte?

Ich versuchte alles, was ich tun konnte. Ich sprach mit Richard von Weizsäcker, habe über 200 Briefe an alle Partei- und Fraktionsführer, die Kirchenleitung und die Verfolgten-Verbände geschrieben. Meine Argumente sind eigentlich nicht widerlegt worden. Die Antwortbriefe, die ich aus der CDU bekommen habe, wiederholten immer nur im Stakkato: Ja, ja, wir haben es beschlossen, und wir halten es für richtig. Und die SPD räumte ein, es sei zu spät. Sie hat nicht schnell genug geschaltet und hätte ein Gesetzgebungsverfahren einrichten sollen.

Richard von Weizsäcker hat resigniert. Er hält die Pieta auch für akzeptabel. Ich hoffte, er sei der einzige, der noch ein Veto einlegen könnte. Rein verfassungsrechtlich ist das wohl schwierig, da es sich bei der Entscheidung um die Neue Wache nicht um einen Akt der Gesetzgebung handelt, sondern es auf dem Verordnungswege verlief, als Dekret. Das ist ja das Ärgerliche! Die Politiker haben gekniffen!

Wie hätten Alternativen zur Kollwitz-Pieta ausgesehen?

Statt sentimentalen Kitsch hinzustellen, hätte man eine Negativ- Plastik, jedenfalls keine Personal- Plastik, aussuchen müssen, denn die jüdische Symbolik kennt keine Personaldarstellung. Da sollte man doch das Minimum an Konzessionen machen! Und wenn man Menschen darstellt, muß man die Konstellation der Vernichtung und das Verschwinden der Leichen thematisieren – dies ist doch der entscheidende strukturelle Unterschied des Zweiten Weltkrieges zu den vorhergegangenen. Es gibt eine große Bewegung unter Künstlern, die Verschwundenen zu thematisieren: mit Hohlformen von Menschenfiguren, die nur negativ sichtbar werden, ausgebrannten Bombenelementen, die wie Menschen aussehen, Trichterformen, in denen ausgeglühte Köpfe hängen, Platten, zwischen denen Körper zermahlen werden. Ich gebe zu: für die Öffentlichkeit in ihrer Rigorosität schwer akzeptabel.

Die Hauptformel ist, daß man eine Plastik schafft, die keinen Sinn stiftet, sondern Sinn einfordert. Die Kollwitz-Statue stiftet natürlich noch Sinn, betuliche Besinnlichkeit. Staatsminister Anton Pfeifer sagte das auch so: „Wir müssen dem deutschen Volk positive Aussagen, Werte offerieren.“ Das ist aber nicht die Aufgabe unseres Staates, Heil verspricht die Kirche, die Theologie. Der Staat muß zeigen, was der Fall war, um Besinnung zu evozieren, aber keine Katharsis vorwegnehmen.

Wäre die bundesrepublikanische Gesellschaft Ihrer Meinung nach interessiert und fähig gewesen, eine nationale Gedenkstätte anders zu diskutieren?

Aber natürlich. Hätte es eine Ausschreibung gegeben, wären die Bedingungen klargeworden, hätte es im Parlament nicht eine Stunde der Deklarationen der Parteien gegeben, sondern wäre eine Sachdebatte entfesselt worden! Man kann keinen Konsens absoluter Art herstellen: Man kann aber ein Minimum an Einwänden aufgreifen, um zu wissen, was zumindest berücksichtigt werden muß, will man ein Denkmal. Und das ist nicht ermittelt worden.

Am 14. November wird es wohl wieder jenes Berliner Gesamtkunstwerk geben, das da meint: Kohl, Polizei und Autonome. Sind Sie über den Gang der Dinge nicht vollkommen verbittert?

Ich ärgere mich natürlich, daß es erfolglos war. Man kann ja nicht mit jeder Regierung Denkmäler wechseln. Das Präjudiz ist daher folgenreich. Obendrein finde ich es noch persönlich mies, daß Kohl mir nicht geantwortet hat. Immerhin kenne ich ihn noch aus seiner Studentenzeit in Heidelberg.

Wird die Auseinandersetzung um den deutschen Totenkult vom Ausland überhaupt wahrgenommen oder diskutiert?

In einer italienischen Zeitschrift stand letztens: „Ein neuer Historikerstreit“. Meine ausländischen Freunde sind entsetzt. Das Ganze wird meiner Meinung nach eine ähnliche Wirkung wie Bitburg haben, obwohl es subtiler ist. Interview: Andrea Seibel

und Siegfried Weichlein

Reinhart Koselleck, 1988 emeritierter Historiker und Geschichtstheoretiker, arbeitet derzeit am „Institute for Advanced Studies“ in

Budapest; zu seinen wichtigsten Publikationen gehören: „Preußen zwischen Reform und

Revolution“, „Kritik und „Krise“, „Vergangene Zukunft“; im Frühjahr wird die Aufsatzsammlung „Zeitschichten“ erscheinen. Ein

Buch zum Totenkult im internationalen Vergleich ist geplant.