: Produkt der Postmoderne
■ Ein Gespräch mit dem russischen Avantgarde-Pianisten Sergej Kurjokhin auf dem "Internationalen Workshopfestival der improvisierten Musik"
Was zunächst als Inter-Regio- JazzFest geplant war, um die innerberlinischen Veränderungen im Bereich frei improvisierter Musik zu dokumentieren, geriet zu einem über 50köpfigen Arbeitstreffen der Crème zeitgenössischer Improvisatoren aus Rußland, England, Berlin und der Schweiz. Das „Internationale Workshopfestival der improvisierten Musik“ bietet noch bis zum 20.11. eine ungewöhnliche Workshop- und Konzertreihe im Weißenseer Kulturhaus „Peter Edel“, bei dem überprüft werden kann, was der vielbeschworene Ost-West- Vergleich als Thema für Variationen und Instant Composing heute noch herzugeben vermag.
Neben Werner Lüdi und Wädi Gysi (15.11.), Borah Bergmann und Vyacheslav Ganelin (17.11.), Fred van Hove und Ernst-Ludwig Petrowsky (18.11.), ziert auch der Pianist und einstige Vorzeigeavantgardist Sergej Kurjokhin (18./20.11.) aus St.Petersburg das prominente Line-up dieser Tage. Beim Potsdamer Festival europäischer Volxmusik jammte er unlängst mit den New Yorker Klezmatics, auf der BID trat er am vergangenen Freitag im Tränenpalast gänzlich „eastbound“ auf. Im Gespräch äußerte er sich zur Frage des musikalischen Überlebens nach Auflösung der politischen Blöcke.
Kurjokhin: Die wesentliche Veränderung der vergangenen fünf Jahre ist, daß die Grenzen geöffnet sind. Die anderen Veränderungen sind kaum übersetzbar: wir wissen nichts über die Zukunft unseres Landes, wir kennen kaum die Namen der fast monatlich wechselnden Regierungsmitglieder, wir wissen nichts über die Mechanismen der Macht. Wir spüren, daß sich das Leben ändert. Täglich. Früher war es für uns Künstler das wichtigste, mal nach Europa, Amerika oder Japan reisen zu können, um dort Erfahrungen zu machen und auszutauschen. Jetzt scheinen die alltäglichen Veränderungen daheim am interessantesten zu sein.
Wie bezeichnen Sie Ihre Musik?
Das was ich mache, würde ich russische Avantgardekunst nennen. Vor ein paar Jahren noch wollte ich unbedingt ein Jazzmusiker werden. Aber das habe ich jetzt gänzlich aufgegeben. Ich habe viel Sonny Clark und Thelonious Monk gehört. Und ich weiß analytisch über ihre Musik Bescheid. Nur: Ich werde nie so swingen können, wie sie. Das liegt wohl daran, daß ich nicht die richtige Hautfarbe habe. Mir fällt das auf, wenn ich Platten von Bill Evans höre. Das ist für mich der weiße Klang. Mag sich vielleicht merkwürdig anhören, aber ich glaube, daß der Swing schwarz ist. Ich bin davon überzeugt, daß Weiße den Jazz bestenfalls imitieren können. Ich bin ein Russe und habe aufgehört, ein Jazzmusiker zu werden.
Ich bin auch nicht daran interessiert, frei improvisierte Musik zu machen. Wenn ich spiele, experimentiere ich vor allem mit der Reaktion des Publikums. Einige Passagen sind einstudiert, andere improvisiert. Wenn ich etwa Mozart zitiere, bemühe ich mich, wie Mozart zu klingen. Ich will auch kein John-Zorn-Imitat sein. Als wir uns über Musik unterhielten, redete er nur von Krach, von Maschinenmusik, von Industrieklängen und Metallgeräuschen. Ich verstehe warum. Wir sind beide typische Produkte der Postmoderne, Künstler der Großstadt. Und als Avantgardekünstler darf man nicht von der Melodie sprechen, von einfacher Musik, das stört mich. John Zorns Musik interessiert mich, und ich habe durch sie entdeckt, wo meine Wurzeln sind. Rachmaninow, Tschaikowski, Prokofjew – die russische Klassik, die Lyrik, die Melodie gemischt mit ein wenig Provokation, das ist meine Welt. Allerdings spiele ich nie dasselbe. Alles kann sich kurzfristig ändern, wie im richtigen Leben. Christian Broecking
Noch bis 20.11., täglich 21 Uhr: „Internationales Workshopfestival der improvisierten Musik“, im Kulturhaus „Peter Edel“, Berliner Allee 125, Weißensee.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen