Weiße Stadt am Mittelmeer

Eine Ausstellung in Berlin über „Tel Aviv – Neues Bauen 1930–1939“ zeigt ein unbekanntes Kapitel moderner Architekturgeschichte  ■ Von Martin Kieren

Es gibt immer wieder Entdeckungen zu machen. Und es ist gut, daß diese Entdeckungen nicht laut und marktschreierisch bekanntgegeben werden, sondern leise daherkommen. Der Titel der Ausstellung „Tel Aviv – Neues Bauen 1930–1939“ ist genau von dieser bescheidenen Art. Dahinter verbirgt sich allerdings eine selbst für den Fachmann überraschende Präsentation von nahezu programmatischer, aber auch traumatischer Wucht.

Das Programm ist das „Neue Bauen“, die moderne oder auch modernistische Architektur, wie sie sich in Europa hauptsächlich in den zwanziger Jahren manifestierte und die man verbindet mit Begriffen und Namen wie Bauhaus, Le Corbusier, Mendelsohn oder Gropius. Doch für den, der die Künste und die politische Geschichte des Jahrhunderts als in sich verschlungene und sich bedingende Bewegungen sieht, liegt etwas Traumatisches in der Tatsache, daß anhand von Schwarzweißfotografien eine Stadt gezeigt wird, wie sie selbst in den kühnsten Träumen derer, die sich an der Bewegung des „Neuen Bauens“ beteiligten, wohl kaum erhofft werden konnte: eine europäische Stadt, ganz aus dem Geiste der Moderne, kubisch, glatt, weiß – aber fern, am Rand, am Mittelmeer, erbaut von denen, die aus diesem Europa vertrieben wurden.

Sahen die Nationalsozialisten in der 1927 von internationalen Architekten errichteten Weißenhofsiedlung in Stuttgart noch das „Araberdorf“, das sie geißelten und karikierten, als bolschewistisch und jüdisch beschimpften, so haben wir es hier tatsächlich mit einer Stadt Weißenhof, mit der materialisierten Idee einer sauberen, hygienischen Welt zu tun. Die kubische Abstraktion, übersetzt in Architektur, in Bau und Raum, zuletzt in ein urbanes Netz – hier hat sie ihre größte Heimat.

Nein, es sind eben nicht Einzelbauten, die in Tel Aviv in irgendwelche freigeräumten Baulücken gezwängt oder auf vor der Stadt liegenden Arealen erbaut wurden. Nein, es sind nicht fremd wirkende Solitäre in einer historischen Stadt. Kein Bau wirkt hier vorlaut-modern, weil betont anders aussehend als seine Nachbarn, vielmehr gilt eher das Phänomen, daß man „vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht“. Der Wald: eine Stadt, gegründet im Jahre 1908 in der Wüste. 1910 hat sie 100, 1921 ganze 3.604 Einwohner. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Region unter britisches Mandat gestellt, im Jahre 1921 gibt es die erste Stadtplanungsverordnung, und Tel Aviv erhält den Status einer Stadt. Im gleichen Jahr 1921 werden viele Juden wegen der Feindseligkeiten mit Arabern Jaffa verlassen, um sich in Tel Aviv niederzulassen. Hinzu kommt ein weiterer großer Zustrom von neuen Bewohnern: Mit der dritten Aliya (Einwanderungswelle) zwischen 1919 und 1921 kommen fast 35.000 Menschen in das Land – meist jugendliche Einwanderer aus Rußland, Polen und Rumänien.

Richard Kauffmann, eingewanderter Architekt und Planer, der zuvor in München bei Theodor Fischer studiert und bei Krupp in Essen an Gartenstadtmodellen gearbeitet hatte, wurde 1920 zum Regionalplaner Palästinas ernannt und 1921 beauftragt, einen Stadterweiterungsplan für Tel Aviv auszuarbeiten, um den Wachstumsprozeß halbwegs vernünftig zu steuern. Man wollte aus den Fehlentwicklungen europäischer Großstädte lernen. Kauffmann erarbeitete einen Plan, der zwischen der amerikanischen City-Beautyful- und der englisch-deutschen Gartenstadt-Bewegung vermitteln will: eine Stadt in Gärten, mit Plätzen, Märkten, Parkanlagen und baumbestandenen Alleen. Die Stadtverwaltung aber mußte dem Druck der Tatsachen nachgeben und schneller Baugenehmigungen erteilen, als ein Plan erstellt und genehmigt werden konnte. Sachzwang nennt man das heute.

1925 wurde schließlich der schottische Wissenschaftler und Städtebauer Patrick Geddes damit beauftragt, einen Plan zu erarbeiten, aus der 30.000-Einwohner- Stadt eine zu machen, die 100.000 Einwohner aufzunehmen in der Lage ist. Ihm wiederum schwebte ein Bindeglied vor zwischen den überfüllten und planlos gewachsenen Städten Europas und Gemeinwesen, die der Erneuerung des Agrarlandes Palästina entsprechen: das „Garten-Dorf“ mithin als Ideal – aber nicht als Randbezirk einer Stadt, nicht als banlieue, sondern als städtisches Modell per se. Sein Bericht, ein grundlegendes, detailliertes und rechtsgültiges Dokument, dient der Stadt noch heute als architektonische und baurechtliche Grundlage. Geddes Bebauungsplan wurde erst 1938 endgültig genehmigt – aber in der Zeit, die bis dahin verstrich, entstand das Tel Aviv, wie es sich heute darstellt und von dem Pe'era Goldman im Katalog schreibt: „In den dreißiger Jahren bot Tel Aviv das Bild einer voll entwickelten Stadt. In diesem Stadium gelang es, ideale Visionen und moderne städtebauliche Erkenntnisse mit den Zwängen der Wirklichkeit zu vereinbaren. (...) es folgte nun das moderne Bauen einheimischer oder eingewanderter, in Europa ausgebildeter Architekten. (...) es war die ,Weiße Stadt‘, in der die moderne ,weiße‘ Architektur einen optimalen mediterranen Ausdruck fand.“

Die Exponate der Ausstellung, die Fotografien von Irmel Kamp- Bandau (die auch die Initiative zu der Ausstellung hatte), führen uns nun diese Architektur vor. Und sie tun es klassisch: in Schwarzweiß- Manier, sachlich, trocken, brut. Das auffallend Skulptural-Kubische, Scharfkantig-Geschnittene der Architekturen betonend, die stürzenden Linien aufrichtend, die Geometrie in den Vordergrund stellend und, wo möglich, ohne Menschen, ohne Autos. Und erst diese Methode der Architektur- Fotografie, ein Medium, das immer noch zu sehr marginalisiert wird (obwohl es doch entscheidend für die Wahrnehmung ganzer Stilepochen wirken kann), rückt die Bedeutung der Stadt Tel Aviv für die moderne Architektur in den Vordergrund.

Wie auf einer Perlenschnur sind sie aufgereiht: Bauten von Architekten, die hauptsächlich aus Rußland, Polen, Deutschland stammen und die größtenteils in Deutschland oder Frankreich in den zwanziger Jahren studiert haben – in den Ländern, in denen die „moderne“ Bewegung mit Le Corbusier und Gropius ihre wirkungsvollsten Vertreter besaß. Die eigentlich städtebaulich monotone Vorgabe der Parzellierung wurde anders als bei amerikanischen und europäischen Projekten von einer ähnlichen Größenordnung durch die Architekten, die in einem Jahrzehnt diese Stadt bauten, mit ungeheurer Flexibilität, was den Formenreichtum und die plastische, skulpturale Ausdruckskraft betrifft, ausgenutzt. Die Bauten sind so unterschiedlich wie unterschiedslos in ihrem modernen Formwillen, sie sind aus einem einheitlich freien Geiste erschaffen und zeigen doch die größtmögliche Vielfalt, die mit der modernen Bauweise und ihrer Technik möglich ist. Europäischen Ursprungs ist der Verzicht auf historisierende Baumerkmale oder tradierten Bauschmuck, ist die Hinwendung zur glatt verputzten Fläche nach den letzten Stilabenteuern des letzten Jahrhunderts mit Historismus, Eklektizismus und Jugendstil. Man schneidet Kuben aus, verschränkt diese und schiebt sie ineinander, man steckt Balkone an und arbeitet bei den Brüstungen mit glattem, kaltem Stahl. Die Scheibe ist das vorherrschende Element, schmal gerahmt oder freistehend. Aber all diese Formen werden transformiert – schon wegen des anderen, heißen Klimas: Die Balkone sind tiefer, ihre Brüstungen werden als Schürzen nach unten verlängert, um darunter mehr Schatten zu spenden. Die großflächigen Verglasungen europäischer Provenienz sind hier fehl am Platze – die Architekten reduzieren die Öffnungen und schaffen größere Veranden und Balkone für den Aufenthalt im Freien. Aber immer bleiben es ausdrucksstarke Architekturen, die von der „zweiten Generation“ der Moderne geschaffen werden.

Das Internationale der „internationalen Architektur“ aber liegt hier gerade und ausschließlich in der Tatsache begründet, daß es so viele ausländische Architekten sind, die sich an diesem Orte ein bauendes Stelldichein gaben – fernab von der Heimat, von allen Nationalismen und Regionalismen, die in dieser Zeit in ihren Heimatländern auch in der Architekturdebatte tobten.

Winfried Nerdinger macht in seinem Katalogbeitrag sehr wohl klar, wie schwierig es ist, hier von einer vermeintlich „internationalen Architektur“ (einem Synonym für „modernes“ oder „Neues Bauen“), gar von der „Bauhaus- Architektur“ zu sprechen: Die Konnotationen dieses Begriffes sind zu komplex und die Rezeptionsgeschichte komplizierter, als man gemeinhin annimmt. Für den Laien sind das architektonische Vokabular und die Raumauffassung eines Mendelsohn, eines Gropius und eines Le Corbusier kaum zu unterscheiden – aber genau hier schaut Nerdinger besser und genauer hin: Er benennt deren „Stil“- Merkmale und auch deren Transformation an den hier gezeigten Bauten.

Und er konstatiert auch Folgendes: „Architekturgeschichtlich bedeutsam an der Moderne in Eretz- Israel ist ohne Zweifel der aus unendlicher Variation von einigen Grundelementen gewonnene Formenreichtum der modernen Architektursprache sowie die Lösung neuer Bauaufgaben. (...) Besonders in Tel Aviv (...) kann gelernt werden, daß die moderne Architektur keineswegs zu der Banalität und Gleichförmigkeit führen muß, die in Europa im Zuge des Baubooms der Nachkriegszeit ganze Landstriche verödete. Gropius' Traum von der ,Einheit in der Vielfalt‘, als Grundlage für Urbanität, ist im Tel Aviv der dreißiger Jahre verwirklicht.“

„Tel Aviv – Neues Bauen 1930–1939“, Fotografien von Irmel Kamp-Bandau. Bis 28. November im Bauhaus-Archiv Berlin. Danach ifa-Galerie Bonn: 4.5.–11.6.1994, Ludwig-Forum Aachen: 26.6.–7.8. 1994. Der ausgezeichnete Katalog mit Beiträgen von I. Kamp-Bandau, Pe'era Goldman, Edina Meyer-Maril, Winfried Nerdlinger, Manfred Schneckenburger erschien im Ernst Wasmuth Verlag. 252 Seiten, 120 Abbildungen, 44 DM