: „Wird ein neuer Holocaust zugelassen?“
■ Rede des litauischen Ex-Präsidenten Vytautas Landsbergis in Buchenwald (gekürzt)
Das Festmahl der Gewalt in Bosnien, der Triumph der Unmenschlichkeit über die Menschlichkeit hat seine Ursachen. Der neue Ausbruch der Gewalt, der tödliche Opfer zur Folge hat, weckt die Erinnerung an Gewalt in der Vergangenheit wieder, und die Krankheit der Feindlichkeit wird wieder akut. Die Epidemie des Hasses verbreitet sich unter den Nachbarn. Jetzt ist Angst zur Politik des Terrors geworden, die durch den Haß multipliziert wird.
Wir können aber den Sinn des Geschehens nicht begreifen, wenn wir seinen Ursprung vergessen. Man hat versucht, die Befreiung der Völker vom kommunistischen Imperialismus durch die These zu kompromittieren, kleine Völker würden Kriege beginnen, wenn die über alle herrschende Diktatur weg sein würde. Diese These mußte bewiesen werden, und sie wird nicht nur im ehemaligen Jugoslawien erfolgreich bewiesen. Deshalb werden auch in den Balkan-Vorgängen zwei wesentliche Dinge immer verschwiegen:
1. gegen wen Slowenien und Kroatien sich verteidigen mußten, nachdem sie ihre Unabhängigkeit erklärt hatten;
2. wie ist der Name des Aggressors von damals und auch noch von heute, der seine Nachbarn überfallen hatte und von der Völkergemeinschaft verurteilt worden war, der jetzt aber sich weigert, an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, solange die Verurteilung nicht aufgehoben ist; der auch heute die „Friedenszonen“ der UNO verspottet und Mord unter der Bevölkerung von Sarajevo sät?
Im Europarat ist dies ein unbeliebtes Thema, dort wird viel lieber über nicht gelöste Probleme der nationalen Minderheiten und „gegenseitige Konflikte“ gesprochen, als ob alle in gleichem Maße schuldig wären. Das unendliche Gerede über Probleme der Minderheiten ist ein sehr bequemer Vorwand, um auch weiterhin über das Verbrechen der Aggression zu schweigen. Auch das kollektive Prinzip der Entscheidungen ist ein bequemes Mittel, um zwölf Indulgenzen preiswert zu erwerben.
Ich erinnere mich an die unverständliche Situation, die wir vor zwei Jahren erlebt haben: Schiffe mit humanitärer Hilfe versuchten die zerbombte und zerstörte schöne Stadt Dubrovnik zu erreichen, aber die Seeräuber, die diese Stadt belagerten, ließen Lebensmittel und Medikamente nicht durch; und das demokratische Europa hat kein Kriegsschiff gefunden, das imstände wäre, die Seeräuber wegzufegen, den Tod zu entfernen und den Weg für das Leben zu öffnen. Auf diese Weise wird auch für andere die Versuchung geweckt, mit aggressiven Handlungen anzufangen.
Und nun stellt Bosnien Fragen an uns. Wird ein neuer Holocaust zugelassen? Ist es wirklich so, daß wir den Holocaust des jüdischen Volkes in der Vergangenheit verurteilen, den Mord an den Moslems in der Gegenwart aber zu dulden bereit sind?
Ist das christliche Europa sich dessen nicht bewußt, daß es für die bosnischen Moslems verantwortlich ist, oder will das törichte Europa die Kräfte der Rache in der ganzen moslemischen Welt wecken? Gibt es denn in Europa christliche Männer nicht, die bosnische Frauen und ihre eigene Ehre verteidigen würden?
Jetzt, da die Moslems in Bosnien schon imstande sind, an einigen Stellen sich zu verteidigen und zurückzuschlagen, müssen wir von diesem Ort der Schande Europas aus an sie appellieren, beim Siegen nicht genauso schlimm zu handeln, wie ihre christlichen Nachbarn in bezug auf sie gehandelt haben. Doch wir müssen die bosnischen Moslems bitten, nicht nach Rache zu streben und sich nicht so zu benehmen, wie sich die Sowjets benahmen, als sie 1945 das Gebiet Königsberg betreten hatten.
Wir müssen den Menschen in Bosnien klarmachen, daß der Ursprung des Bösen nicht in der einen oder anderen Religion liegt. Das Böse hat seine eigene perverse Religion, und sein Ursprung in unserem Jahrhundert liegt in den unmenschlichen Doktrinen des Faschismus und des Kommunismus. Jetzt haben beide ihre ideologischen Hüllen verloren, was aber geblieben ist, ist der primitive Kult der Macht und der Gewalt, der Haß gegen das Denken, gegen Geist und Ungehorsam.
Eine andere Ursache ist gewesen, daß ein Land, viel größer als Serbien, aus der Kompromittierung Westeuropas auf dem Balkan politischen Nutzen gezogen hat. Es wurde versprochen, denjenigen, der sich an Frauen und Kindern vergreift, als einen Kriegsverbrecher zu bestrafen. Wie wird aber Europa denjenigen behandeln, der es nicht zuläßt – und auch in diesem Winter nicht zulassen wird –, Sterbende zu retten. Ist er kein Massenmörder? Muß er nicht gebändigt und bezwungen werden?
Ich kann auch weiter fragen: Wie behandelt die Welt den Staat, dessen Beamten drohen, Bosnien auch anderswo zu veranstalten, zum Beispiel in Estland und in allen drei baltischen Staaten, die nach 50 Jahren sowjetischer, nazistischer und wieder sowjetischer Okkupation ihre Freiheit erst vor drei Jahren wiedererlangt haben?
Es gibt viele Vorträge und internationale Konventionen, die die Anwendung der Gewalt und Drohung mit Gewalt verbieten. Wir sehen aber aggressive Doktrinen kommunistischer Art, in denen ein großer Staat erklärt, besondere Interessen in kleineren souveränen Staaten zu besitzen.
Wenn die Angriffsdrohungen geduldet werden, kann auch der Angriff selbst geduldet werden. Deshalb ist die bosnische Tragödie nicht von dem isoliert, was in Europa geschieht und geschehen kann. Nicht Maastricht, sondern Bosnien ist die Entscheidung Europas über seinen Weg in die Zukunft. Und nicht nur Bosnien ist diese Entscheidung, sondern auch Litauen, Lettland, Estland.
Heute befindet sich Bosnien auf der Linie von Feuer und Blut. Morgen kann Makedonien oder einer der drei baltischen Staaten auf dieser Linie liegen. Ich glaube auch nicht daran, daß das Feuer im Kaukasus mit Blut gelöscht werden kann. Doch heute sieht Europa und die ganze Welt Bosnien. Dort sind Menschen, die heute leiden und sterben. Ist es möglich, das alles zu sehen und die Gefahr nicht abzuwenden?
Der Gedanke an Buchenwald soll uns wenigstens helfen, damit diese Fragen erhört werden.
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