: Neun Richter und zwei Richterinnen werden sich morgen erstmals im Den Haager Friedenspalast zusammensetzen, um über die Greueltaten aller Kriegsparteien in Ex-Jugoslawien zu urteilen. Doch zwei wesentliche Dinge fehlen für eine fundierte Prozeßführung: harte Facts und die Angeklagten. Aus Genf Andreas Zumach
Kriegsverbrechertribunal vor leerer Anklagebank
Mit einer konstituierenden Sitzung seiner elf RichterInnen nimmt morgen im Den Haager Friedenspalast das Internationale Tribunal über die Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien seine Arbeit auf. Vor leeren Anklagebänken, da Verfahrensfragen noch geklärt werden müssen. Dies wird nach Einschätzung der in Genf bislang mit der Vorbereitung des Tribunals befaßten Kommission mindestens zwei Wochen, eventuell aber auch bis zu einem halben jahr dauern.
Ohnehin steht der Ankläger, der bisherige Generalstaatsanwalt Venezuelas Ramon Escovar-Salom, 67, erst ab Mitte Januar 94 zur Verfügung. Allerdings sieht es derzeit ganz so aus, als würden die Anklagebänke auch auf Dauer leer bleiben, ja überhaupt keine Anklage zustande kommen. Denn wegen des fehlenden Interesses zahlreicher Regierungen und internationaler Organisationen seit Etablierung des Tribunals durch den UNO-Sicherheitsrat im Februar dieses Jahres ist die bisherige Material- und Beweislage für Folterungen, „ethnische Säuberungen“ und insbesonders für die (Massen-)Vergewaltigungen immer noch völlig unzureichend.
„Am besten wäre Vergessen“, hatte der Psychiater Dr. Radovan Karadžić Anfang dieses Jahres auf die Frage nach dem Umgang mit den Kriegsverbrechen empfohlen, denen inzwischen bereits weit über zwei Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Nachdem die „Internationale Staatengemeinschaft“ mit dem von UNO und EG vorgelegten „Friedens“abkommen für Bosnien bereits einen Großteil der serbischen Gebietseroberungen und Vertreibungen offiziell sanktioniert hat, könnte auch dieser Wunsch des bosnischen Serbenführers, der als Befehlshaber für einen Großteil der Kriegsverbrechen verantwortlich ist, in Erfüllung gehen. Es sei denn, der UNO-Apparat und für die Verzögerung verantwortliche Regierungen geraten noch rechtzeitig unter ausreichenden Druck nichtstaatlicher Gruppen, die sich derzeit langsam zum Thema Kriegsverbrechertribunal organisieren.
Die Vorgeschichte des Tribunals ist eine Geschichte vollmundiger Erklärungen und leerer Versprechen. Der öffentliche Druck für die Etablierung dieses ersten internationalen Kriegsverbrechergerichtes seit den Prozessen von Nürnberg und Tokio entstand im Herbst 92 durch Berichte über „ethnische Säuberungen“, Internierungscamps und die systematisch betriebene Vergewaltigung von bis zu 60.000 Frauen – vorwiegend bosnische Musliminnen.
Doch schon damals bestand nur geringer Wille, diese Verbrechen vor Beseitigung wichtiger Spuren und damit beweiskräftig auch mit Blick auf spätere juristische Verfahren festzuhalten. Zwar reiste der ehemalige polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki mit dem offiziellen Mandat eines Sonderberichterstatters der UNO- Menschenrechtskommission zwischen September 92 und Mai dieses Jahres mehrfach nach Ex-Jugoslaiwen. Da ihm die überwiegend britisch-französisch-kanadische Führung der Unprofor den notwendigen Schutz durch Begleitsoldaten oder zumindest ein gepanzertes Fahrzeug verweigerte, mußte Mazowiecki angesichts militärischer Auseinandersetzungen auf den Zufahrtsstraßen sämtliche Fahrten zu Internierungscamps oder Bordellen, in denen Frauen vergewaltigt oder zur Prostitution gezwungen wurden, abbrechen.
Den fünf Völkerrechtsexperten der im November 92 in Genf eingerichteten Kommission zur Vorbereitung eines Tribunals erging es kaum besser. Bis heute hat die Kommission kein eigenes festes Budget und muß ihren Auftrag der Sammlung, Sichtung und Auswertung von Beweisen und ZeugInnenaussagen aus einem völlig unzureichenden Fonds finanzieren, der von freiwilligen Beiträgen einzelner Regierungen abhängig ist. Beweismaterial haben sie bislang lediglich zu den Zerstörungen von Kulturgütern und der Vertreibung sammeln können. Die seit Monaten von den serbischen Besatzungstruppen im kroatischen Ostslawonien immer wieder verhinderte Beweissicherung bei den Massengräbern in Vukovar scheiterte Anfang November erneut – an Verständigungsschwierigkeiten mit den Serben. Auf einen professionellen Übersetzter hatte die Delegation der Kommission, die eigens von Genf nach Vukovar gereist war, mangels ausreichender Finanzen verzichten müssen.
Völlig unzureichend ist die Beweislage zu Vergewaltigungen und Folterungen. Bis Mitte Oktober hatte die Kommission lediglich 330 Vergewaltigungsfälle untersuchen können – das heißt, die Opfer ausfindig machen und befragen können. Eine Untersuchungskommission des EG-Parlaments hatte im März dieses Jahres von schätzungsweise 20.000 Vergewaltigungsfällen gesprochen. Auf der bisherigen dünnen Datenbasis lassen sich die „Systematik“ von Vergewaltigungen, ihr Zusammenhang mit der Politik der „ethnischen Säuberungen“ und damit ihr Charakter als Kriegsführungsinstrument nicht beweisen. Diese Einschätzung, die die fünf männlichen Kommissionsmitglieder in ihrem Mitte Oktober vorgelegten Zwischenbericht vertreten, ist realistischerweise auch vom Tribunal zu erwarten (neun Richter, zwei Richterinnen). Für die Identifizierung und das Auffinden weiterer Opfer von Vergewaltigungen und Folter sowie von ZeugInnen ist die Kommission auf die Unterstützung internationaler Organisationen und von Regierungen angewiesen. Doch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), dessen Delegierte den ersten Kontakt mit Insassen von Gefangenenlagern in Bosnien hatten, verweigert die Herausgabe von Informationen. Gegenüber der taz erklärte ein hoher IKRK-Funktionär, die Organisation habe stichhaltige Beweise für „höchstens ein Dutzend“ Vergewaltigungsfälle. Und die Genfer Zentrale des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), dessen MitarbeiterInnen in Bosnien und Kroatien alle Flüchtlinge vor der Ausreise in europäische Aufnahmeländer befragt und dabei Dossiers angelegt hat, behauptet, diese Informationen nicht gespeichert zu haben. Wenig kooperativer verhalten sich die deutsche Bundesregierung und die Regierungen 14 weiterer Aufnahmeländern. Bei Ankunft in Deutschland wurde allen Flüchtlingen aus Bosnien und Kroatien ein Fragebogen zur freiwilligen Ausfüllung vorgelegt. Bis heute hält die Bundesregierung mehrere tausend ausgefüllte Fragebögen unter Verschluß. Der Genfer Kommission übermittelte sie lediglich eine statistische Übersicht, die zur Identifizierung und Auffindung von Opfern und ZeugInnen nicht taugt. Auf einen Brief der Kommission vom 6. Oktober an die Regierungen der 15 Flüchtlingsaufnahmeländer mit der dringenden Bitte, umgehend alle für das Tribunal relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen, antworteten bis gestern lediglich drei Regierungen. Die Bonner Regierung übermittelte lediglich die Anschrift von drei deutschen Nichtregierungsorganisationen, an die sich die Kommission doch bitte wenden möge. Die Kommission hat inzwischen beschlossen, fünf Dreiergruppen aus je einer Anwältin, Psychologin und Übersetzerin aufzustellen, die in Ex-Jugoslawien sowie in den europäischen Aufnahmeländern Opfer und ZeugInnen von Vergewaltigung und Folter aufsuchen und befragen sollen sowie Einsicht in Unterlagen nehmen sollen, die die Regierungen unter Verschluß halten. Das ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Ob das Geld für die Arbeit dieser fünf Teams da ist, und ob sie Einsicht in Unterlagen erhalten, ist nicht geklärt.
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