: Lüthge: Neustadt soll dumm sterben
■ Studie über Gesundheitsschäden durch Verkehr zurückgehalten / Deutlich erhöhtes Krebsrisiko
Bremens Verkehr tötet doppelt und dreifach. Wer an einer vielbefahrenen Straße lebt, stirbt viermal eher an Krebs, der von Schadstoffen aus dem Auspuff verursacht wird als an einem Verkehrsunfall auf Bremens Straßen. Das ist die Folgerung aus einem Gutachten, das im vergangenen halben Jahr die Belastungen durch Lärm und Schadstoffe in der Neustadt gemessen hat. Die Ergebnisse und möglichen Folgerungen der Untersuchung sind so brisant, daß eine eigentlich für das Wochenende geplante öffentliche Vorstellung der Studie in letzter Minute abgeblasen wurde. Der lauteste Protest gegen die Veröffentlichung der Daten, so heißt es, sei von Baustaatsrat Jürgen Lüthge gekommen. Er habe angekündigt, die Untersuchungen als „unsachlich“ und die Daten als „unseriös“ abzuwerten, um eine Beschäftigung mit Konsequenzen zu verhindern.
Das Gutachten „Gesundheit und Verkehr“ hatte die Gesundheitsdeputation im Februar in Auftrag gegeben. Für 170.000 Mark sollte das Bremer „Büro für Verkehrsökologie“ die Zahl der Verkehrsunfälle, die Belastung der Anwohner durch Verkehrslärm und durch Schadstoffe untersuchen und Lösungsvorschläge machen. Zu der Diskussion um Abhilfe, die in einem Workshop am vergangenen Samstag stattfinden sollte, kam es nicht: „Interne Abstimmungsschwierigkeiten“, so die offizielle Begründung, verhinderten die Information der Öffentlichkeit.
Denn die Meßergebnisse der Studie sind alarmierend: Die Messungen von krebserregendem Benzol und Dieselruß lagen teilweise beim Zehnfachen des unter den Bundesländern vereinbarten Leitwertes. Die erst für 1995 - und autofreundlich - angesetzten Grenzwerte werden in einigen Straßen bis zum doppelten Wert überschritten. Auch die Lärmbelastung liegt in einigen der gemessenen Gebieten deutlich über der 65-Dezibel-Grenze und erhöht damit das Risiko eines Herzinfarktes deutlich.
In einer Studie „Verkehrsopfer in Bremen“ vom Juli hat der Bremer Arzt Johannes Spatz darauf hingewiesen, daß in Großstädten wie Bremen „das Menschenopfer, das durch verkehrsbedingte Schadstoffe und Lärm verursacht wird, weit über der Zahl der Verkehrsopfer“ liegt. (Die taz berichtete) Eine dauernde Überschreitung des 65-Dezibel Lärmpegels ist nach Untersuchungen des Bundesgesundheitsamtes für drei Prozent aller Herzinfarkte verantwortlich. Spatz kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluß, daß mit 54 Krebstoten durch vom Auto verursachte Schadstoffe doppelt soviele Menschen in Bremen durch die indirekten Verkehrsfolgen sterben wie durch direkte Unfälle.
Die unter der Decke gehaltene Untersuchung beschreibt jetzt erstmals dieses allgemeine Risiko konkret für einzelne Stadtteile. Während im Vergleichsgebiet Neue Vahr die Schadstoff- und Lärmwerte zwar deutlich über dem Länder- Leitwert, aber unter den avisiierten Grenzwerten liegen, weisen sie für die Straßenschluchten der Neustadt hohe Belastungen auf. Nicht nur auf großen Durchgangsstraßen, wo die Lkw zum GVZ Obervieland rumpeln, sondern auch in kleinen, verkehrsberuhigten Straßen hängt nach den Messungen eine Schadstoffwolke.
„Reine Vogel- Strauß-Politik“ schimpft die umweltpolitische Sprecherin der grünen Fraktion, Lisa Hackstein über die Behörden. „Die SPD will uns in der Verkehrspolitik über den Tisch ziehen.“ Die Grünen hätten beim Ausbau der Wirtschaftsverkehre um die Stadt nachgegeben, aber das grüne Konzept für die autofreie Innenstadt komme in der Ampel nicht voran. „Das ist einer der ganz wenigen grünen Identifikationspunkte in der Verkehrspolitik“, sagt Hackstein. Sie greift eine Überlegung ihres Kollegen Dieter Mützelburg auf: „Wenn sich da nichts bewegt, müssen wir uns überlegen, ob wir einzelnen Punkten des Haushalts zustimmen“. Die Koalitionsfrage sieht sie aber nicht von den Grünen, sondern von der SPD gestellt: „Die SPD hat Angst vor Stimmenverlusten und will es in der Verkehrspolitik allen recht machen - das ist Dummbeutelei hoch drei.“
Bernhard Pötter
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