■ Daumenkino
: Zeit der Unschuld

Was, ein neuer Scorsese im Daumenkino? Das kann doch nicht! Da muß doch! Aber Scorsese selbst wird ihnen erklären, warum dieser Film unter „ferner liefen“ rangiert:

„Was mich beruhigt“, hat er Le Monde erklärt, „ist, daß Zeit der Unschuld im Grunde ein Thema behandelt, das mich seit zwanzig Jahren beschäftigt: Er erzählt, genau wie Mean Streets oder wie mein erster Film Who's that Knocking on My Door?, von einem Stammesritual. Dazwischen Schuld. Sehnsucht. Unterdrückung und Seelenpein. Wie Travis Bickle in Taxi Driver, wie Harvey Keitel in Who's that ... – alles Sehnsüchte, die schließlich in Zerstörung enden.

Von diesem Film sind also keine Überraschungen zu erwarten. Ob Mafia, ob Aristokratie, ob Straße oder Opernloge – schon ein Jahr bevor die Dreharbeiten begannen, hat Scorsese genau gewußt, welche Soße der Hasenbraten haben wird, der auf den ewig gleichen opulenten Tafeln dampft. Glaubt er wirklich, so kann er Visconti spielen? Die Romanvorlage für das Fin-de-siécle/New- York-Drama von Edith Wharton, einer Zeitgenossin von Henry James, hat er schon während der Arbeit an Raging Bull gehabt, das ist ungefähr tausend Jahre her. Natürlich hat er auch gleich gewußt, wer die Chose spielen wird: Daniel Day Lewis, of all people, (ich sage nur: „Der letzte Mohikaner“) gibt den Upper-class-Anwalt Newland Archer, der sich in geheimer Leidenschaft nach der geheimnisumwitterten Russka Comptessa Ellen Olenska (Michelle – hust!– Pfeiffer) verzehrt, wo er doch die kleine May Wellend (Winona Ryder) heiraten soll. Sie kennen den Rest. Es kommt zu verhinderten Küssen in der Kutsche, zu plüschsofaigen Begegnungen der dritten Art – je Leidenschaft, desto Plüsch –, aber es darf ja nicht.

Dazu die Kamera von Michael Ballhaus, die in ewig pompösen Zügen und Walzerkreisen das Kostümspektakel abfährt. Der Film beginnt sogar mit der Opernszene, mit der Filme über Dangerous Liaisons immer anfangen: Nach dem Motto „Wo lassen Sie erleben“ spielt sich Erfüllung in der Kunst ab, damit hat man die Schauspieler vom Exzeß entlastet und dem eigenen Treiben als „Auteur“ einen gehörigen Bedeutungsschub verpaßt. Dann lieber einen ganzen Abend Donizetti satt. mn