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Kommunismus nach Manchester Art

In Pudong, der Sonderwirtschaftszone Shanghais, pokern die Erben von Mao und Karl Marx mit den Kapitalisten um das große Geld. Das chinesische Volk dagegen wird immer ärmer  ■ Aus Shanghai Erwin Single

Mao gilt nur noch als schäbiges Trinkgeld. Gerade einmal drei Pfennig ist der kleine Geldschein mit den Portraits proletarischer Lichtgestalten wert. „Der Kapitalismus ist ein giftiges Gas mit duftendem Geruch“ – diesen Rat hatte der Große Steuermann seinen Schülern auf den Weg gegeben. Für Herrn Wang, den Besitzer eines kleinen Fischrestaurants am Rande des Shanghaier Bunds, ist die Angst vor dem reaktionären Gedankengut jedoch längst verflogen. „Mein Gefühl sagt mir“, bemerkt der allerte Yuppie und steckt zufrieden das Geld ein, „daß wir auf dem richtigen Weg sind.“

Daß der grünbraune Mao heute, ausgerechnet zum 100. Geburtstag des Lehrmeisters, als keineswegs üppiges Bedienungsgeld in den Gaststätten, Teehäusern und Karaoke-Bars kursiert, hat geradezu Symbolcharakter: Der über die Chinesen gekommene urkapitalistische Geist der „sozialistischen Marktwirtschaft“ krempelt so rasant die Wirtschaft und Gesellschaft um, daß der Kommunismus zu Tanzen beginnt und die Welt auf dem Kopf steht.

Zwar haben wie Herr Wang die meisten Menschen keine Ahnung, was sich eigentlich hinter dem antagonistischen Begriffswirrwarr verbirgt. Doch wem es im Wirtschaftswunderland des Mao-Erben Deng Xiaoping gut geht, der fragt lieber nicht nach. „Wer die Planwirtschaft noch will“, sagt Wang, „der muß ein Idiot sein.“

Keine Stadt, mit Ausnahme der Wirtschaftssonderzonen im Süden vielleicht, besitzt derart gute Vorraussetzungen für eine glänzende Zukunft wie die 12-Millionen- Metropole an der Mündung des Yangtse. Wo eine kolossale Hängebrücke über den Huang Pu führt, standen vor wenigen Jahren nicht viel mehr als ein paar altmodische Fabriken und trostlose Häuserblocks. „Besser ein Zimmer in Shanghai als eine große Wohnung in Pudong“, hieß es damals, erzählt der Volkswagen-Ingenieur Wu Xiaodong. „Heute ist das hier Klondike.“ Täglich frißt die Abrißbirne neue Schneisen in den alten Stadtteil, um den Platz zu schaffen für immer neue Hochhäuser, immer neue Straßen, immer neue Baukräne. Umgerechnet rund fünf Milliarden Mark wurden seit 1990 in Pudong verbaut – Weltrekord.

Kleinaktionäre prügeln sich mit der Polizei

Keine Region der Erde kann derzeit mit so hohen Wachstumsraten aufwarten. Wie Pilze schießen die Betriebe aus dem Boden, allein 1.400 waren es im letzten Jahr. In den nächsten 20 Jahren soll hier das größte Finanz- und Handelszentrum Ostasiens stehen – schon komplett geplant bis hin zu den 23 Luxushotels und einem 460 Meter hohen Fernsehturm, dessen Gerippe bereits die altehrwürdige Skyline Shanghais überragt.

„Man muß Nester bauen, um Vögel anzulocken“, lautet ein chinesisches Sprichwort. Im Union Building, nicht weit von der Hafenpromenade mit den Prachtbauten aus den 20er Jahren entfernt, hat sich das ausländische Kapital niedergelassen. Shell, ABB, Mitsubishi, Phillips, Bell, Alcatel, Ciba Geigy, ENI, Du Pont – keiner will beim Monopoly um Marktanteile und Gewinnaussichten fehlen. Getrieben von dem einmaligen Wirtschaftswachstum in der Weltgeschichte – im letzten Jahr legte das chinesische Sozialprodukt um 12,8 Prozent, die Industrieproduktion sogar um 21 Prozent zu – feilschen Manager um Exportlizenzen, Investitionen, Ausscheibungsmodelle, Leasinggesellschaften und Aktienrechte. Selbst politische Ränkespiele, unzählige Bittgänge zu den Behörden und wochenlange Bearbeitungszeiten können sie nicht abschrecken. „Der helle Wahnsinn“, sagt ein Repräsentant des US-Multis General Electric. „Wer sich hier nicht engagiert, der hat im Jahr 2000 verspielt.“

Das meiste Geld aber kommt von den Auslandschinesen – aus Hongkong, der einstigen Piratenstadt der Weltwirtschaft, und aus Taiwan, in dessen Kuomintang- Führung die Pekinger Machthaber noch immer die Rebellen des früheren Formosa sehen. Sie sind außer an den brillanten Gewinnaussichten für sich selbst vor allem daran interessiert, daß es ihren Vettern und Nichten im roten China schnell besser geht.

Auch Chinas Staatsbank hat das Potential der Stadt längst erkannt. Hinter dem Freundschaftsladen, dessen Auslagen vom Zeitgeist ebenfalls längst überrollt wurden, errichtete die Bank of China ein prunkvolles Hochhaus aus Beton, Stahl und Glas. Die Wallstreet läßt grüßen. Um die Ecke boomt der sozialistische Aktienmarkt. Wer mitmachen will im Spiel um Angebot und Nachfrage darf hier nicht passen. Als im Sommer letzten Jahres Anteilsscheine für Aktien ausgegeben wurden, campierten Tausende tagelang vor den Schaltern. Anschließend lieferten sich die leer ausgegangenen Kleinanleger blutige Straßenschlachten mit der Polizei. Aber was sagen den ausländischen Anlegern schon China Bicycles, Shanghai Vacuum oder Tyre & Rubber? Nicht viel, doch die Aussicht auf schnell verdientes Geld wirkt selbst auf die internationalen Finanzströme wie ein Magnet – schließlich ist 1993, das Jahr des Hahns, für kräftige Gewinne besonders gut, sagen die chinesischen Astrologen.

Vetternwirtschaft der KP-Funktionäre

Banker, Broker und Börsianer lassen sich nicht einmal davon abschrecken, daß viele der jungen Aktienhändler nur Strohmänner der chinesischen Nomenklatura sind, die sich Deng Xiaopings Parole „Bereichert euch“ allzusehr zu Herzen genommen haben. Im Gegensatz zur Wallstreet, wo jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, möchte in China gerne die Partei entscheiden, wer reich werden darf und wer nicht. Korruption? Was für ein häßliches Wort! „Die Kaderleute wissen viel zu genau, wie sie es anstellen müssen, um nicht in Verdacht zu geraten“, verrät Herman, ein mit allen Wassern gewaschener Investment-Banker der Crédit Lyonais.

Neue Firmen werden mit Krediten gegründet und lösen sich später einfach in Luft auf; von KP-Vätern kontrollierte Staatsfirmen vergeben Milliardenaufträge an die Privatfirmen ihrer Söhne und Töchter, Immobiliengeschäfte werden über dunkle Kanäle abgewickelt. Die Funktionäre fördern nicht nur Geschäfte, sie buhlen auch eifrig um die Gunst der aufstrebenden Klasse der Unternehmer. Das Wachstumsfieber hat alle ideologischen Barrieren über den Haufen geworfen. – „Zehn Jahre lang ist wirtschaftlich nichts passiert, wurde kein Yuan investiert“, zieht ein im Autotransportgeschäft tätiger Ingenieur Bilanz. Und wer ist schuld? – die Viererbande. Die Jugend wurde aufs Land verfrachtet, um die demographischen Probleme geographisch zu lösen, er selbst hat vier Jahre im Westen die schweren Lösböden umgepflügt, bis er zurück nach Peking und an die Universität durfte.

„Nicht am Sozialismus festhalten, nicht reformieren und öffnen, nicht die Wirtschaft entwickeln, nicht das Leben des Volkes verbessern – und man kann nur in einer Sackgasse enden!“, verkündet der greise Deng Xiaoping von den Plakatwänden. Anders als die durch „Glasnost“ und „Perestrojka“ gewendeten sowjetischen Reformidealisten haben sich die chinesischen Kommunisten ihren Realitätssinn erhalten. Doch allmählich müssen sie sich wie Zauberlehrlinge vorkommen, die den Geist nicht mehr in die Flasche verbannen können. Die eingeleitete Profitjagd entzieht sich immer mehr ihrer Macht. „Die Partei kontrolliert die Politik“, heißt es bereits unter der neuen Generation von Managern und Beamten, „wir aber steuern die Gesellschaft.“ Wer den ungleichen Kampf gewinnen wird, ist längst klar. Das Ganze ist das Gleichgewicht der Katastrophe, ein Patt des Rette-sich-wer-Kann.

Der Ausbeutung sind keine Grenzen mehr gesetzt

Die Gegensätze werden immer krasser. Während der Chef einer kleinen Lohnnäherei mit seinem japanischen Mittelklassewagen vor dem noblen Orient-Shopping- Center vorfährt und den Kofferraum mit französischem Cognac und Unmengen von Weinflaschen vollädt, sticheln seine acht Näherinnen in einem Hinterhof um die Wette. 50 Stunden in der Woche, für weniger als 150 Mark im Monat, nähen sie auf uralten, halb ramponierten Maschinen T-Shirts zusammen. Der Ausbeutung der Schwächeren sind keine Grenzen gesetzt, es gibt keine Gewerkschaften, die sich um die Arbeiterinnen kümmern, von Arbeitgeberpflichten ganz zu schweigen. Was hier geschieht, steht alles schon im ersten Band des „Kapitals“ geschrieben. Doch den hat hier wohl kaum einer gelesen, und so machen sich die Leute daran, den Manchester-Kapitalismus wiederzubeleben.

Daß der Wirtschaftsaufschwung eine relative Sache ist, zeigt sich auch am Bahnhof von Shanghai. Vor dem Portal lungern Hunderte abgerissener Gestalten herum. Zu Tausenden treffen die Elenden mit den Fernzügen in der Industriemetropole ein, auf der Suche nach einem Job und einer besseren Zukunft. „Vielleicht geht es uns endlich einmal nicht noch schlechter“, gibt sich ein früherer Landarbeiter aus Hohot optimistisch. Sein Begleiter stimmt ihm zu: „Wissen Sie, während der Kulturrevolution ging es uns auch schlecht, es herrschte überall Kälte und Hunger, und dann wurde es besser.“ Sie kampieren im Freien oder verdrücken sich irgendwo in den Randbezirken der Stadt, immer in der Angst, daß die Polizei sie aufgreift und mit dem nächsten Zug wieder in ihre Heimat befördert. Wer das Glück hat, nicht aus der kapitalistischen Enklave verbannt zu werden, schlägt sich als Tagelöhner und Schwarzarbeiter durch oder geht illegalen Geschäften nach.

Wenn das Angebot an produktiver Arbeit nur ungenügend wächst, sind politische und soziale Krisen vorprogrammiert. Über 100 Millionen Menschen flüchten vom Land und ziehen durch China – eine Zeitbombe, die tickt. Den Massen abseits der prosperierenden Küstenregionen und Sonderwirtschaftszonen geht es immer schlechter. – „Wir sind ein armes Volk“, sagt ein Chirurg aus Xinning, der zu einer Tagung nach Shanghai gekommen ist, „allein für das Essen müssen wir zwei Drittel unseres Einkommens ausgeben.“

Dengs letztes Gefecht gilt nun seinem Lebenswerk. Bevor das politische Stehaufmännchen seine Macht endgültig in andere Hände legt und „in den Himmel zu Marx“ aufsteigt, will er sich noch einen letzten Wunsch erfüllen: Das wiedervereinigte Großchina. Im Himmel wird sich Deng von Marx, Engels und Mao zur Verantwortung ziehen lassen müssen.

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