Menschen wie du beziehungsweise ich: Freundinnen Von Claudia Kohlhase

Ein Bahnhof ist ein verwackelter Ort: Die einen sind furchtbar schnell, die anderen zu langsam. Ein Wunder, daß nicht dauernd alles kippelt. Oft weiß man selbst kaum, ob man kommt oder geht oder sich zwischen den eigenen Zeilen bewegt. Gut, daß es da die Gleise gibt! Die schweifen wunderbar ordentlich in die Ferne, eins links, eins rechts, und im Prinzip bis in alle Ewigkeit. Erwachsene haben leider keinen Sinn für solche Ortschaften am Übergang. Die beiden kleinen Mädchen aber, die dort hinten aus dem Bahnhofsgelände in den Gleisbereich treten, sind sich der Bedeutung des magischen Ortes in aller Breite und Höhe bewußt.

Der Sachverhalt ist so, daß die eine fährt, und die andere bleibt da, also alles klar: Hier ist ein Abschied zu zelebrieren, der sich gewaschen hat. Es handelt sich im übrigen um einen Bahnsteig am Sonntagvormittag, so daß alles leer und die Szene gut einzusehen ist.

Erstaunlich schnell wird eine erste Trennung vollzogen: Es wird entschieden, daß die, die fährt, schon mal auf ihrem Bahnsteig Position einnehmen soll; und die andere stellt sich genau gegenüber, so läßt sich dann alles gut besprechen beziehungsweise zurufen. Man hätte zwar auch zusammenbleiben können, aber das wäre denn doch zu undramatisch. Und so richtet sich nun jede mit ihren Siebensachen auf dem Bahnsteig ein, und es wird schon mal mit Winken begonnen, tieftraurig und wie nach Amerika, es sind aber nur circa sieben Meter. Weil tieftrauriges Winken und sehr lautes Seufzen auf Dauer ein wenig zermürben, bricht sich kurze Normalisierung Bahn, und letzte Meldungen werden hin- und hergerufen: daß der Schluß von der letzten „Bergdoktor“-Folge total beschissen war, daß die Ergebnisse der letzten Mathearbeit total beschissen waren, daß die Ergebnisse der nächsten Mathearbeit vermutlich total beschissen sein werden und daß es total beschissen ist, sich nun bald trennen zu müssen.

Sehr verstohlen schaut die eine einmal zur Uhr, als wäre das schon Verrat. Aber trotz allem kommt der Zug nicht. Natürlich will hier niemand, daß er wirklich kommt; aber er kommt ja nun auch wirklich nicht, was jetzt? Der größte Spannungsbogen läßt nach, wenn er extrem in die Länge gezogen wird. Da Not erfinderisch macht, werden eben ein paar Steinchen hin- und hergeworfen, um wenigstens im Luftraum konkretere Verbindung zu halten. Ununterbrochenes Steinchenwerfen macht allerdings plötzlich und aus unerfindlichen Gründen Durst. Jetzt: wie löschen? Aufstehen, die treue Freundin im Stich lassen, bloß wegen einer Cola-Dose? Was, wenn der Zug kommt? Aber der Zug kommt nicht. Schon wird eine letzte dramatische Wendung erwogen: ob man nicht noch mal schnell auf einem Bahnsteig zusammentreffen soll! Oh Gott, ist jetzt guter Rat teuer: Denn wer wechselt zu wem? Wer ist schneller treuer?

Aber der liebe Gott hat endlich ein Einsehen und verkündet über die Lautsprecher das Eintreffen der schrecklichen Eisenbahn. Schon zischen die Gleise; noch einmal bäumen sich zwei kleine Figürchen auf und winken mit Armen, Beinen und allen sieben Beutelchen, bevor der Koloß sie scheidet.

Und dennoch wird uns dreien fröhlich klar, wie vorübergehend doch alles Endgültige ist. Denn schon übermorgen wird man sich wiedersehen; ist das nicht schön?