■ Das vergebliche Warten auf den großen Aufbruch: Warum die SPD ihre Sache nicht so schlecht macht, wie viele meinen
Wie tief war sie gesunken, die SPD, als ihr nach quälenden Debatten und Mißerfolgen auch noch der Vorsitzende abhanden kam. Vor einem halben Jahr – Anfang Mai trat Björn Engholm zurück – hätte niemand einen Pfifferling auf sie gesetzt. Als die Mitgliedschaft statt des forschen Gerhard Schröder den braven Rudolf Scharping an die Spitze wählte, galt vielen als ausgemacht, daß die SPD frühestens im Jahre 2002 wieder regieren würde. Doch in der vergangenen Woche, auf dem Wiesbadener Parteitag, präsentierte sich diese Partei so außerordentlich ministrabel, daß der „Wille zur Macht“ zur heimlichen oder tatsächlichen Überschrift aller Kommentare wurde.
Das paßt uns natürlich auch wieder nicht.
Die Urteile stehen fest: Die SPD will regieren und rückt deshalb ein Stück nach rechts. Die Erneuerung der achtziger Jahre bricht ab, die SPD verengt sich wieder auf ihre klassische Klientel und ihre klassischen Themen. Statt Streitkultur eine SPD unter Scharping, hierarchisch, die Reihen fest geschlossen. Die SPD wird „eine andere Partei“, hatte die Parteilinke bereits im Vorfeld des letztjährigen Sonderparteitags geunkt.
Die Urteile stehen allzu fest. Fest steht nämlich nur, daß sich die SPD vom November 92 bis zum November 93 kräftig verändert hat. Zum Schlechteren? Vor einem Jahr fand sich eine überwältigen Mehrheit für einen innerparteilichen Asylkompromiß, der sich wenige Wochen später als kollektiver Selbstbetrug herausstellte. Blauhelme oder Lauschangriff? Auch nach dem Asyldebakel standen für die SPD nur Themen an, mit denen sie erneut unter Druck geraten und sich selbst zerstreiten konnte.
In Wiesbaden fechten die Delegierten den Streit um den Lauschangriff aus. Der hauchdünne 15-Stimmen-Vorsprung zeigt an, daß die Parteiräson keine die Sachfrage überragende Rolle gespielt hat. Die knapp unterlegene Minderheit traut dem versprochenen „Paket“ aus Erfahrung nicht. Doch glaubt auch niemand, daß die SPD in diesem Fall wieder derartig über den Tisch gezogen werden kann wie beim Asyl. Der Parteitag geht gelassen zur Tagesordnung über.
Die SPD hat sich zum Besseren verändert. Dafür lassen sich nicht nur die Umfragen anführen. Von Führungskrise kann nicht mehr die Rede sein, auch wenn in der ersten Reihe weiter um Einfluß und Geltung gerangelt wird. Vor allem hat die SPD ihr Thema gefunden, mit dem sie um Wähler und Regierungsmacht kämpfen will. Unwillig räumen auch die Skeptiker ein, daß die SPD in der Mitte und rechts davon fischen muß, wenn sie die Union schlagen und Regierungspartei werden will. Die Konsequenzen daraus, das ist wahr, können einigermaßen unbehaglich sein.
In Wiesbaden, so könnte man dem Bild der festen Urteile entgegenhalten, hat die SPD in Wahrheit den ersten gelungenen (und vorsichtigen) Versuch gemacht, an den Modernisierungsstichworten der achtziger Jahre wieder anzuknüpfen. Ersatzlos gestrichen ist dabei allerdings eins: die Hoffnung auf den großen reformerischen Aufbruch.
Blick zurück: Was war die SPD zwischen 1982 und 1993 eigentlich? Die jüngere Vergangenheit, die unter Engholm, ist schnell abgehandelt. Überrollt von der gesamtdeutschen Wirklichkeit, geriet das Berliner Programm, gewissermaßen die Schlußakte des sozialdemokratischen Modernisierungsprozesses, schnell in Vergessenheit. Ein „Blauhelm-“ und ein „Asylparteitag“ markieren die Parteigeschichte – mühselige, aufgezwungene und mißglückte Versuche, den neuen Realitäten gerecht zu werden.
Diese Tristesse der neunziger Jahre hat die Modernisierungsdebatten der Nach-Schmidt-Ära angenehm verklärt. So muß daran erinnert werden, daß vorwiegend ein innerparteilicher, ein programmatischer Prozeß stattfand. Auch in den Achtzigern mußte sich die SPD damit abplagen, daß sie in der Opposition nur spärlich an den Mißerfolgen der Regierung Kohl profitieren konnte. Die Früchte, die in Form rot-grüner oder ansonsten sozialdemokratisch geführter Landesregierungen geerntet werden konnten, schmeckten nicht sonderlich exotisch. Ihre erneuernde Kraft für die politische Kultur und Wirklichkeit des Landes blieb begrenzt, nicht weil ihre Macher nicht wollten, sondern weil ihre Möglichkeiten nicht groß waren. Aber auch auf der programmatischen Ebene gab es Grenzen: in vielen Fragen ging der Mut der Genossen längst nicht so weit wie der einzelner Vordenker. Namentlich Lafontaine konnte sich regelmäßig davon überzeugen. So blockierte die SPD bis in die späten achtziger Jahre wichtige Diskussionen: etwa bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten oder bei den Kosten für eine andere Verteilung der Arbeit. Drei handfeste Resultate sind festzuhalten: Die SPD band einmal mehr die neuen sozialen Schichten (die eigentliche Öffnung fand in der Brandt-Ära statt), Koalition mit den Grünen wurden zum demokratischen Normal-, allerdings nicht Regelfall, das Wahlprogramm „Fortschritt 90“ versprach das ökologische Umsteuern.
In Wiesbaden hat die SPD ihr nächstes Wahlprogramm angedeutet. Daß es wieder „Fortschritt“ heißen wird, ist mehr als unwahrscheinlich. Eine desillusionierte Fassung des Neunziger- Programms, so könnte man nennen, was Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine in Wiesbaden vorstellten. Modernisierung unserer Volkswirtschaft, Reform des Sozialstaats, intelligente Organisation der Arbeit zählt Scharping als Modenisierungsaufgaben auf. Der wirtschaftspolitische Leitantrag, den federführend Lafontaine verantwortet, ist überschrieben: Eine gesamtdeutsche Strategie für Modernisierung, Beschäftigung und umweltverträgliches Wachstum.
Es wird stark wahrgenommen, wie sehr der Charme sozialdemokratischer Reformideen abgenommen hat. Sehr viel weniger ist aufgefallen, daß in der SPD jetzt geht, was in den achtziger Jahren reizbar abgewiesen worden wäre. Als Revolution bezeichnet Lafontaine etwa, daß Scharping unwidersprochen vertritt, die Arbeitszeiten könnten nicht bei vollem Lohnausgleich finanziert werden. Auch die Bemerkung, daß die Menschen kürzer arbeiten, die Maschinen jedoch durchaus länger laufen könne, wäre früher durch anstößig gewesen.
Eins hat Scharping der SPD wirklich aufgezwungen: Sie soll zur Verantwortung bereit sein, auch ohne den Aufbruch zu neuen Ufern versprechen zu können. Denn darauf hat sie lange gewartet. Und vergeblich, genauso wie alle im Umfeld der SPD. Tatsächlich sollten wir uns von der Vorstellung lösen, die Ablösung der Regierung Kohl sei gleichbedeutend mit dem Beginn einer neuen Reform-Ära. Gesucht ist der nächste, der übernächste vernünftige Schritt. Daraus kann vielleicht der große Wurf, die Alternative werden.
Wer die SPD in Wiesbaden nur als nach rechts gerückten Trübsinn wahrnimmt, sollte sich überprüfen: Die SPD als Klagemauer, weil die eigenen Hoffnungen nicht aufgegangen sind, auch das hat eine lange Tradition. Tissy Bruns
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