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Ungereimtheiten am laufenden Meter

■ Ermittlungspannen, unterdrückte Befunde und einseitige Interpretationen bestimmten bisher die Aufklärung der Umstände des Todes von Wolfgang Grams

Seine Anfrage beim wissenschaftlichen Dienst der Stadtpolizei Zürich hätte sich Kriminalbeamte Bagemihl eigentlich sparen können. Im Auftrag der Schweriner Staatsanwaltschaft übermittelte der Polizist knapp vier Wochen nach der Schießerei auf dem Bahnhof Bad Kleinen den eidgenössischen Experten einen „vorläufigen endgültigen Untersuchungsauftrag“. In Punkt eins sollte geklärt werden: „Befinden sich an der rechten Hand Grams' biologische Spuren, die im Zusammenhang mit dem möglichen selbstbeigebrachten Kopfschuß stehen?“ Zu diesem Zeitpunkt hätte Bagemihl wissen müssen, daß die Spuren an den Händen des Leichnams Grams' bereits vernichtet worden waren – unmittelbar nach dessen Tod, im Auftrag von BKA-Beamten und bestätigt durch die Aussage des Arztes an der Uniklinik Lübeck.

Das Vernehmungsprotokoll des Chirurgen Albert Kooistra ist ein Dokument der Beweismittelvernichtung. Nach Grams' Einlieferung sei nicht mehr zu erwarten gewesen, „daß der Patient überlebt“. Der schwer Verletzte wurde zwar noch auf den Operationstisch gebracht, er verstarb aber „innerhalb einer halben Minute“. Der Mediziner schilderte weiter: „Bis zum Eintreffen von sechs bis sieben Personen, die sich als Kripobeamte aus Wiesbaden vorstellten, wurde nichts an dem Patienten verändert. Der Patient wurde dann ausgepackt, und zwei Beamte verblieben mit ihrer Fotoausrüstung im Kühlraum. Auf Wunsch dieser Beamten wusch ich mit einer isotonen Kochsalz-Lösung das Gesicht der Leiche und den Bereich des rechten Ohres. Auf Bitten der Beamten wusch ich ebenfalls beide Hände ab, damit Fingerabdrücke genommen werden konnten. Ich wusch insbesondere die rechte Hand und dabei die Innenflächen und die Finger und Fingerspitzen ab.“ Die Indizien für Mord oder Selbstmord waren unwiederbringlich dahin.

Offen bleibt nicht nur, warum Bagemihl den Experten einen an sich sinnlosen Auftrag erteilte. Die Aussage des Arztes widerlegt zudem eine Aussage im Zwischenbericht der Bundesregierung. Dort heißt es: „Eine Reinigung der Handflächen und Handrücken erfolgte nicht.“

Zwei Monate nach der Schießerei übersandte Bagemihl den Züricher Gutachtern überraschend auch ein weiteres Projektil zur Auswertung. Die Kugel, die als Asservat „Nr. LKA 5“ geführt wurde, hatte ein Urlauber auf dem Bahnsteig 3/4 in Bad Kleinen zufällig „in einer Sandfuge zwischen zwei Steinen“ gefunden. Den Beamten der Tatortgruppe des BKA war sie entgangen. Das Projektil mutierte im Zuge der Auswertung zum Mysterium. „Aufgrund unserer Untersuchungsresultate steht fest“, heißt es in einem Schreiben des Schweizer Dienstes vom 14. Oktober, „daß sich das Projektil, Asservat Nr. LKA 5, von allen Projektilen der uns bekannten, im vorgenannten Fall mitgeführten Munitionsarten unterscheidet (...) Zusammenfassend halten wir fest, daß das Asservat Nr. LKA 5 nicht mit den übrigen Asservaten des vorgenannten Falles in Zusammenhang gebracht werden kann.“

Der seltsame Fund sollte der Öffentlichkeit vorenthalten werden, wie aus einer Randbemerkung des Züricher Schreibens hervorgeht. „Auf Anordnung von Herrn Oberstaatsanwalt Schwarz werden die oben aufgeführten Erkenntnisse in den Teilergebnissen Nr.4 nicht aufgeführt.“ Das Motiv dafür blieb im dunklen.

Widersprüche gibt es auch in der „gutachterlichen Stellungnahme“ des rechtsmedizinischen Instituts der Universität Münster vom 19.September. Unter Leitung von Professor Brinkmann wurde dort die Kleidung des eingesetzten GSG-9-Beamten „Nr. 6“ spurenkundlich ausgewertet, der im Verdacht steht, Grams den tödlichen Kopfschuß versetzt zu haben. Die Rechtsmediziner mußten einräumen: „Bezüglich der Hose (welche frisch gewaschen erschien), Schuhe, Holster, Handschuhe, ist eine Interpretation des (negativen) Spurenbildes nicht mit der erforderlichen Sicherheit möglich, da insoweit eine Reinigung stattgefunden haben kann.“

Außer dem sogenannten „Spraykegel“ auf der Waffe von Grams ist diese Jacke ein wichtiges Indiz für die Selbstmordtheorie, die favorisiert wird. Hätte der Polizist tatsächlich aus nächster Nähe geschossen, dann müßten sich an seiner Jacke – analog zur verwendeten Waffe – mikroskopische Blutspritzer finden. Zwar wurden an dem Bekleidungsstück auf der Rückseite des rechten Ärmels Blutspuren von Grams gefunden – es handelt sich dem Gutachten zufolge aber um sogenannte „Kontaktspuren“, deren Entstehung „durch das unmittelbare Schußgeschehen“ ausscheide.

Bei aller Akribie der Experten aus Münster bleibt ein Widerspruch. Die Kioskverkäuferin Baron gab mehrfach zu Protokoll, daß der Beamte, der gebeugt über dem liegenden Grams stand, eine „weinrote Jacke“ getragen habe. „Mir war“, schilderte die Zeugin am 9. August dem Staatsanwalt, „als hätten beide Personen, also die liegende und die danebenstehende, gleiche oder ähnliche Jacken, beide weinrot, getragen.“ Im „Spurengutachten“ vom 18. August wird die Jacke des Beamten Nr.6 aber als „dunkelblaue Steppjacke, Größe 54, mit Aufdruck Mercedes Benz“ beschrieben.

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