: Die neuen Quartiere (elfte und letzte Folge): Wegen der sozialen und ökologischen Probleme muß der Bau von Vorstädten mehr sein, als Wohnraum zu schaffen / Flächenfressende Konzepte tragen zur Stadtzerstörung bei Von Harald Bodenschatz
Ausstieg aus dem Siedlungsbrei
Die große Vision der zwanziger Jahre von der neuen Stadt Berlin ist verraucht – die Vision eines kunstvollen Archipels von Siedlungen um eine moderne City aus Stahl, Glas und Beton. Die Siedlung sitzt heute auf der Anklagebank. Vorgeworfen wird ihr: fehlende Urbanität, fehlende Mischung von Arbeiten und Wohnen, fehlende soziale Mischung, manchmal auch Flächenverbrauch, kein Bezug zur Geschichte des Ortes. Die Ankläger haben eine Alternative zur Hand: die Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts mit ihren Straßen und Plätzen, mit ihrer dichten Bebauung und Mischung der Funktionen. Die Siedlungsvision, so der Kern des Vorwurfs, habe das schrecklichste Monster des Städtebaus des 20. Jahrhunderts hervorgebracht – die Großsiedlung. Die Option heute muß daher heißen: zurück zur Vorstadt des Liberalismus.
Doch halt: War da nicht noch irgend etwas, was die Hoffnung auf die Siedlung genährt hat? War die Vision der in Siedlungen sich auflösenden Stadt nicht eine radikale Antwort eben auf die Stadt Berlin des 19. Jahrhunderts, auf deren soziale Widersprüche, sozialräumliche Segregation? War sie nicht eine Antwort auf die Kälte, Verlogenheit und soziale Gleichgültigkeit der Stadt der Kaiserzeit? War sie nicht ein Stück Hoffnung auf soziale Reform?
Tatsächlich umfaßte die Stadt des 19. Jahrhunderts ja weit mehr als die gern zitierten Stadtteile Lichterfelde und Rheinisches Viertel. Sie war alles zugleich: die Elendsviertel im „alten Berlin“, die hoffnungslos überbelegten Arbeitermietskasernen im Wedding, in Friedrichshain und Prenzlauer Berg, die vornehmen Mietshäuser in Teilen Charlottenburgs und Schönebergs sowie in Wilmersdorf, und natürlich auch die noblen Villengebiete im Südwesten bis hin zum Wannsee, nach Babelsberg. Das Konzept des flächenfressenden Wohnens weit draußen vor der Stadt, fern jeder Arbeitsstätte war ja keine Erfindung der zwanziger Jahre, sondern bereits ein reales Lebensmodell der Oberschicht im späten 19. Jahrhundert. Das Leben in der Villa war ein Privileg, das mit der überfüllten Mietskaserne nicht nur kontrastierte, sondern dieses voraussetzte.
Für die Reformer der Weimarer Zeit war folgerichtig die gesamte Stadt des 19. Jahrhunderts ein unsoziales Produkt, eine städtebauliche, bauliche und funktionale Untat. Erinnert sei nur an Werner Hegemanns Feldzug gegen die Produkte der privaten Terraingesellschaften (etwa das Bayerische Viertel) und gegen die Mietvillen in Nikolassee in seiner polemischen Schrift „Das steinerne Berlin“ von 1930. Der Kampf der Reformer galt einer sozialeren Wohn- Stadt, und diese Stadt schien nur in der Form einer Siedlungslandschaft denkbar. Dabei blieb die Orientierung an dem opulenten Wohnstil des Großbürgertums offensichtlich: Das Siedlungshaus war die Villa des kleinen Mannes, draußen vor der Stadt, mit Grün zumindest vor und hinter dem Haus, ohne störendes Gewerbe, aus einem Guß, in möglichst großer Stückzahl und von einem Träger gebaut. In der Siedlung sollten sich die Privilegien des Großbürgertums verallgemeinern, zugleich aber soziale Unterschiede ausgeglichen werden. Das Niveau der Verallgemeinerung war in den berühmten Berliner Siedlungen der zwanziger Jahre – erzwungenermaßen – sehr bescheiden, es näherte sich der Kleinstwohnung, der „Wohnung für das Existenzminimum“. Aber selbst die Kleinstwohnung blieb für den einfachen Arbeiter unbezahlbar. Das komfortable Wohnen an der Peripherie war und blieb der Berliner Arbeiterklasse verschlossen. Nur in den Erwerbslosensiedlungen und vor allem in den illegalen Wohnlaubengebieten der Weltwirtschaftskrise fanden auch Bewohner mit geringem Einkommen eine prekäre periphere Bleibe.
Der Durchbruch kam erst – im Westen wie im Osten – nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Bau eines Siedlungsbreis aus Fünziger-Jahre-Siedlungen mit viergeschossigen Zeilen des sozialen Wohnungsbaus, aus Sechziger-/Siebziger-Jahre-Großsiedlungen mit Wohnhochhäusern des sozialen oder volkseigenen Wohnungsbaus und aus endlosen Teppichsiedlungen mit Einfamilienhäusern ließen die Städte schnell zu einem expandierenden Ölfleck werden. Zu einem Ölfleck, der in West-Berlin wegen der Mauer nicht so richtig ins Fließen kam. Voraussetzung der Siedlungslandschaft der zweiten Generation war ein neues Massenverkehrsmittel: das Auto.
Die automobile Siedlungslandschaft der Nachkriegszeit unterschied sich grundsätzlich von der schienengebundenen Siedlungslandschaft der zwanziger Jahre. Die Siedlung wurde standortunabhängig und damit ubiquitär. Darüber hinaus nahm das Verhältnis Wohnfläche pro Einwohner kontinuierlich zu. Das ist eines der wichtigsten, wenig erforschten und kaum diskutierten, ja tabuisierten Phänomene des hohen Lebensstandards in der alten Bundesrepublik. Die Wohnflächen an der städtischen Peripherie wucherten und wucherten – nicht etwa, um immer mehr Menschen zu versorgen, sondern vor allem, um den bereits gut versorgten Menschen immer mehr Fläche anzudienen. Das galt im übrigen keineswegs nur für „einkommensstarke“ Haushalte, sondern auch für die „breiten Schichten des Volkes“, denen programmatisch der soziale Wohnungsbau gewidmet war. Damit entstand in der Nachkriegszeit eine qualitativ neue Situation: eine permanent wachsende Peripherie, die durch wachsenden Wohnflächenverbrauch stimuliert und durch ein oder mehrere Autos pro Haushalt vermittelt wurde. Dieses Wohlstandsmodell war nur mit massiven Subventionen realisierbar: durch direkte, in der Zukunft abzuzahlende soziale Subventionen, vor allem aber durch indirekte Subventionen – etwa die kostenlose Überlassung von Straßen für den fließenden und ruhenden KFZ-Verkehr, die Abwälzung der Folgekosten für die Umweltzerstörung auf spätere Generationen. Expansion der Wohnflächen und Explosion der Autozahlen hatten und haben bis heute einen Preis, der nichts mit den (Folge)-Kosten gemein hat.
Immer mehr Autos und immer mehr Wohnfläche – die Verallgemeinerung städtischer Konsumprivilegien hat längst die Grundlagen der Stadt selbst ausgehöhlt: Funktionstrennung, Freiflächenfraß, mangelnde „Urbanität“, Reduktion des öffentlichen Raums auf die Transportfunktion, Lärm, Abgase, Unfallgefahr, Sicherheitsprobleme vor dem Hintergrund unzureichender sozialer Kontrolle öffentlicher Räume sind Folgen einer Stadtproduktion, die offenbar kaum aufzuhalten ist. Die verheißene soziale Stadt ist zur Stadt der Verschwendung mutiert, der die Selbstzerstörung auf dem Fuße folgt. Verschwendung für alle – die über Jahrzehnte gefeierte Fortschrittsformel ist brüchig geworden. Der autogerechte Siedlungsbrei ist als Holzweg erkannt, und doch wird an diesem Weg immer weiter gebaut. Denn an Alternativen scheint es zu mangeln.
Eine Alternative jedenfalls steht bereits auf der Tagesordnung: der von den Regierungsparteien angebetete Markt. Der durch die Haushaltskrise beschleunigte Abbau sozialer Subventionen macht sich zunehmend bemerkbar. Sinkende Kaufkraft, steigende Wohnkosten, steigende Autokosten rütteln am Besitzstand der „breiten Schichten des Volkes“. Der Kreis der Privilegierten wird eingeschränkt. Und diejenigen, die um ihren Besitz fürchten, rüsten politisch auf und panzern sich mental räumlich ein. Der Markt – wer will es bezweifeln – kann einen Teil des Konsums drosseln – aber um welchen Preis? Solange seine Spielregeln nicht radikal umgewälzt werden, wirkt er ohne jede soziale, ökologische und urbane Perspektive. Das Instrument des Marktes fördert Verteilungskämpfe, den sozialen Krieg und untergräbt das, was heute als Begriff aus der Mottenkiste von vorgestern erscheint: Solidarität – auch mit denen, die keinen Besitzstand abbauen müssen, weil sie keinen haben.
Gibt es aber überhaupt eine Alternative zum Holzweg der Vergangenheit jenseits des Neoliberalismus? Die offizielle sozialdemokratische Politik signalisiert: Nein. Sie will den schwerfälligen Tanker der Verschwendungsgesellschaft weiter in Richtung Eisberge steuern. „Verstärkter“ Bau von Sozialwohnungen, Öffnung eines Zugangs für Sozialwohnungen auch für Besserverdienende, eine „sozial gerechtere“ Eigentumsförderung sind ihre Forderungen. Das bedeutet: Korrekturen am Modell der Vergangenheit, aber nicht mehr. Kein Politiker kann es sich offenbar leisten, darauf hinzuweisen, daß wir nicht nur über unsere Kosten leben, sondern damit unsere Umwelt, unsere Stadt ruinieren und das Leben späterer Generationen aufs Spiel setzen.
Doch ist ein sozialer Ausstieg aus der verräumlichten Verschwendung des Siedlungsbreis trotz des lähmenden „Nein“ gestaltbar? Hier gilt es zunächst, die Diskussion überhaupt zu eröffnen, bevor der Griff in die Rezeptekiste erfolgt. Auch eine soziale Antwort wird an der Wurzel der Verschwendung ansetzen müssen, an den Kosten des Automobils und der Wohnung. Notwendig sind Anreize zum Sparen, zum schonenden Umgang mit Ressourcen, zur Pflege. Perspektivisch muß deutlich werden, daß Wohnen auf großer Fläche und Autofahren teurer sind. Daß eine solche Entwicklung über einen Wertewandel vermittelt werden muß, ist selbstverständlich. Einen Wertewandel, der das Sparen positiv besetzt, das Verschwenden negativ. Nachzudenken wäre etwa – bei gleichzeitiger Annäherung an die wirklichen Kosten – über die Einschränkung der Subventionen von Wohnraum auf eine neu zu begrenzende Höchstfläche pro Person, über die Begünstigung des Gebrauchs eines Autos durch mehrere Personen, die Verteuerung von Zweitautos usw. Über eine zuverlässige, breitenwirksame soziale Sicherung eines sparsamen Standards also, über höhere Belastungen für alles, was darüber hinausgeht. Daß für solche Überlegungen eher Politiker in Bonn und weniger Architekten in Berlin zuständig sind, ist unbestritten. Und daß ein solches Nachdenken durch die Ost-West- Widersprüche ungemein erschwert wird, ist klar. Man denke nur an den „Nachholbedarf“ an Autos und Wohnfläche in den neuen Bundesländern. Dennoch: Der Verzicht auf langfristig vertretbare Alternativen zum simplen „Markt“ arbeitet nur dem Neoliberalismus in die Hände.
Realistische, sozial abgefederte Kosten aber können den Spielraum der öffentlichen Hand erweitern, das Zusammenrücken, die Vernetzung von Arbeiten und Wohnen und damit eine wirkliche Abkehr von der perspektivlosen Siedlungslandschaft der Vergangenheit fördern. Sie eröffnen die Chance, den mit Hilfe ungedeckter Schecks immer weiter wuchernden privaten Konsum in einen öffentlichen Konsum, in urbane Lebensqualität zu transformieren. Sie bieten die Möglichkeit, Vorstadbau nicht nur als Wohnungsbau zu begreifen, sondern als Städtebau, der nicht nur Wohnfolgeeinrichtungen vorsieht, sondern auch Einrichtungen von gesamtstädtischer Bedeutung. Die aktuellen Stadterweiterungsprojekte an der Berliner Peripherie sind in der Regel Wohnungsbauprojekte, die eine alte Selbsttäuschung fortschreiben: die Behauptung, der Wohnungsneubau auf Grundlage des überkommenen Subventionssystems sei eine adäquate Antwort auf die Wohnungsnot. Auch hinter den Projekten von heute verbirgt sich das Verschwendungskonzept des Siedlungswohnens der Nachkriegszeit. Was wirklich neu ist, ist die Absicht, mit der Form des Alten zu brechen – zugunsten von öffentlichen Räumen, historischen Bezügen, einer sozialen Mischung. Schon diese Absicht umzusetzen wird schwer sein. Viel schwerer aber noch, eine soziale wie ökologische Perspektive des Wohnens in der Stadt zu entwickeln.
Harald Bodenschatz ist Bauhistoriker und Soziologe.
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