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Die neue Schule des Jegor Timurewitsch Gaidar

Jegor Gaidar, ehemaliger Wirtschaftsexperte der Prawda, ist heute ein Synonym für die Wirtschaftsreformen Rußlands – und der bestgehaßte Mann des Landes. Doch aus seinen früheren Fehlern hat der 35jährige Vizepremier inzwischen gelernt.  ■ Aus Moskau Klaus Helge Donath

„Wenn wir nicht allen erklären, daß die Freiheit nicht allein unsere Sache, die Angelegenheit der Profis ist, dann geraten wir in die größten Schwierigkeiten, sollte sich so etwas wie am vergangenen Wochenende wiederholen.“ Jegor Timurewitsch Gaidar war in die Schußlinie geraten und mußte sich rechtfertigen. Am Abend des 4. Oktober – bewaffnete Anhänger des ehemaligen Vizepräsidenten Ruzkoi stürmten das Moskauer Fernsehzentrum – hatte der hochnervöse stellvertretende Vizepremier seine Landsleute aufgefordert, ins Stadtzentrum zu kommen, um die Demokratie zu retten.

Gaidar war vor dem Stadtparlament schon zur Stelle. Zehntausende Demonstranten begrüßten ihn jubelnd und klatschend. Sie waren ruhiger als er. Unter ihnen befand sich auch seine Familie: vom siebzigjährigen Vater, einem Konteradmiral, bis zum zwanzigjährigen Neffen. Nur seinen dreijährigen Sohn hätten sie zu Hause gelassen, meinte Gaidar, als ihm Bürger vorhielten, er hätte durch seinen Appell das Leben unbeteiligter Menschen aufs Spiel gesetzt, seine Familie aber geschont.

In der Tat sei es für ihn keine einfache Entscheidung gewesen, die Moskauer auf die Straße zu holen. Das Risiko war sichtbar. Intuitiv hat er dennoch richtig gehandelt. Wahrscheinlich – wohl nie wird es sich belegen lassen – war es die Unterstützung der Demonstranten, die die Armee zur endgültigen Parteinahme nötigte.

Gaidar ist kein Mensch für Massenauftritte. Er besitzt überhaupt kein Charisma. Dem kleinen, untersetzten Mann fehlt jegliche Neigung zur großen Geste eines Politikers. Im Gegenteil – seine Sprache ist hochkompliziert, kausal und argumentativ. Als politischer Redner wirkt er ermüdend. Man hat den Eindruck, der in sich versunkene Grübler entwickelt gerade seine Gedanken vor einer Seminargruppe und nicht vor laufender Kamera. Wenn er vor den Volksdeputierten seine Politik zu rechtfertigen hatte, brachte er sie allein dadurch zur Weißglut. Man beschimpfte und verunglimpfte ihn. Gaidar ließ sich auf das Niveau seiner Gegner nie herab. Er blieb bei der Sache, seiner Sache: dem Wirtschaftsumbau Rußlands.

Der Name Gaidar ist in Rußland ein Synonym für Reformpolitik. Nach dem Augustputsch 1991 machte Jelzin den damals 35jährigen Ökonomen, der lange Zeit der Wirtschaftsexperte des KPdSU- Verlautbarungsorgans Prawda gewesen war, zu seinem amtierenden Ministerpräsidenten. Mit dem 1. Januar 1992 begannen die Reformen in Moskau. Preiserhöhungen – und Liberalisierung, Privatisierung und eine strikte Fiskalpolitik nannte er die Eckpfeiler seines Programms. Über Nacht wurde der Reformarchitekt zum bestgehaßten Mann im Land. An allen Fehlentwicklungen gab man ihm die Schuld. Der nach außen hin eher sanfte Mann ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hielt seinen Kurs und bewies unnachgiebige Härte. Eigenartigerweise nahmen die meisten Menschen ihm das nicht übel, obwohl sie unaufhörlich jammerten. Man gestand ihm seine Fachkompetenz zu. Doch wichtiger noch, er zeigte keine Starallüren und vermittelte das Bild eines integren und unbestechlichen Politikers.

Hinter vorgehaltener Hand gesteht einer seiner Berater, daß sie zu Beginn der Reformen ein Programm gerade mal für vier Monate gehabt hätten. Man hatte damit gerechnet, das Land würde die verordnete Schocktherapie nicht aushalten und die Verantwortlichen aus Amt und Würden jagen. Die konservative Legislative lief auch Sturm, um den Ministerpräsidenten zu entmachten. Mehrmals stand sein Schicksal Spitz auf Knopf. Gemäßigte Kräfte wie Wladimir Schumeiko wurden ihm im Frühjahr 92 als Kompromißkandidat an die Seite gezwängt. Schumeiko sollte als Lobbyist der Direktoren der staatlichen Industrien den Bremser spielen. Sie wollten die Privatisierung verhindern und weiterhin unbegrenzte Subventionskredite für ihre zum Teil maroden Betriebe einstreichen. Etwas, was überhaupt nicht in Gaidars monetaristisches Konzept paßte. Die Rechnung ging nicht auf. Als Jelzin Gaidar im Dezember letzten Jahres opferte, um sein eigenes politisches Überleben zu sichern, war es Schumeiko, der den Rücktritt der Regierung anbot, um den Premier zu halten.

Gaidar stürzte. Er wirkte angeschlagen und zutiefst enttäuscht. Jelzin hatte ihn zum Opferlamm gemacht. Dennoch riet er seinen Ministerkollegen, das Kabinett nicht zu verlassen, um soviel wie möglich von den Reformen zu retten. Seine Stelle übernahm Viktor Tschernomyrdin. Auch er, ein gedienter Pragmatiker und Apparatschik, war ein Kandidat, auf den sich die konservative Mehrheit des Kongresses verständgen konnte. Sie hegte die gleichen Hoffnungen wie bei Schumeiko.

Tatsächlich versuchte der neue Premier am Anfang, die Wünsche seiner Klientel zu befriedigen. Er verfügte eine rigide Preisfixierung und versprach Milliardenkredite. Als die positiven Ergebnisse ausblieben, änderte Tschernomyrdin seinen Kurs. In der Zwischenzeit hatte sich auch das Lager der Betriebsdirektoren weiter differenziert. Die Zahl der Reformbefürworter nahm zu. Gaidar war nicht untätig geblieben. Er hatte eine „Assoziation privatisierter Unternehmen“ gegründet und war ihr Vorsitzender geworden. Mittlerweile gehören ihr so gigantische und renommierte Unternehmen an wie der LKW-Hersteller Kamas, die Maschinenfabrik Uralmasch in Jekaterinburg oder das Wolga-Werk Avtovas in Nischnij Nowgorod. Zwischen hundert und zweihundert Großbetriebe, über das ganze russische Territorium verteilt, haben sich den Zielen der „Assoziation“ angeschlossen.

Die Ausgangslage wurde auch für den neuen Premier leichter. „Tschernomyrdin hat die enttäuscht, die ihn vorgeschlagen haben“, meinte Gaidar Anfang September ohne Schadenfreude. Öffentlich hat er seinen Nachfolger nie gemaßregelt. Wenige Tage später holte Jelzin Gaidar ins Kabinett zurück – als stellvertretenden Vizepremier, der sich um die Wirtschaft kümmern sollte. Tschernomyrdin habe die Rückkehr Gaidars angeregt. Es war ein Schlag ins Gesicht der Reformgegner und ein Zeichen dafür, daß der Umbau trotz Widerständen weitergehen mußte. Die Wähler hatten im April-Referendum mehrheitlich auch dem Wirtschaftskurs ihr Plazet gegeben.

Nach der Auflösung des Parlaments flog Gaidar sofort in die Provinzen, um Unterstützung in den Regionen zu mobilisieren. Dies scheint ihm auch gelungen zu sein. Er hat gelernt. Während seiner Amtszeit als Premier haben er und sein Kabinett einen entscheidenden Fehler begangen: Nie erklärten sie der Bevölkerung und den Zögerern und Zauderern, warum sie welche Maßnahmen ergreifen. Ein riesiges Erklärungsdefizit bestand, das Reformgegner zu instrumentalisieren suchten. Nebenbei beherzigte er auch noch die Warnung seiner tschechischen und polnischen Reformerkollegen. Sie warfen ihm damals vor, die soziale und politische Basis für den Umbau vernachlässigt zu haben. Gaidar nutzte seine „Freizeit“ um einen Wählerblock „Rußlands Wahl“ ins Leben zu rufen.

Alle Russen kennen die Erzählungen seines Großvaters Arkadi Gaidar. Er war ein flammender Anhänger des revolutionären Rußlands. Jedes Kind konnte jene anrührigen Geschichten wie „Timur und seine Mannschaft“ – den aufopfernden Einsatz junger Pioniere für die alt gewordenen Veteranen der Revolution – nacherzählen. Sie alle hatten „Die Schule des neuen Lebens“ studiert. Früher, schmunzelt man, gingen wir bei Arkadi – heute bei Jegor in die Schule.

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