■ Eine historische Gegenüberstellung wirft die Frage auf:
: Ist die Mafia wirklich am Ende?

Daß sich Toto Riina, Chef des Mafia-Leitorgans „Cupola“, vor Gericht nicht auf das von ihm selbst geforderte Rededuell mit dem wichtigsten aller „Kronzeugen“, Tommaso Buscetta, eingelassen hat, kam für viele überraschend. Schon sprechen die maßgeblichen Kommentatoren der italienischen Medien von einer Niederlage des Obermafioso. Doch läßt der scheinbare Rückzug Riinas auch eine andere Interpretation zu, und die ist wesentlich beunruhigender; sie könnte ein großes Stück Weichenstellung für die Zukunft sein.

Riina hat mit seiner Verweigerung eine Kehrtwende eingeleitet. Hatten die Bosse bisher sich stets mit großer Schlagfertigkeit und Schlitzohrigkeit herausgewunden, sich als verfolgt hingestellt und mit verdeckten Drohungen gerarbeitet, so hat der Oberboß zwei Dinge klargestellt: Erstens behält er auch den für einen Mafioso ehrenrührigsten Anschuldigungen gegenüber seine Fassung, läßt sich nicht provozieren, regt sich nicht auf, schreit nicht: Ganz und gar der würdevolle, große Capo alter Schule. Zweitens, und das war das Gespenstische, das Furchterregende an der Szene: Riina hat mit den herkömmlichen Regeln der Auseinandersetzung mit der legitimen Macht gebrochen. Er saß da, hellwach zwar, aber seine Attitüde signalisierte deutlich: Die Mafia wird die Zuständigkeit staatlicher Gerichte künftig nicht mehr anerkennen. Dieser Minimalkonsens, den die Mafiabosse bisher stets mit der Justiz aufrechterhalten hatten, und die sich sowohl auf das – stets korrekte – Verhalten im Knast wie auch im Sicheinlassen auf die prozessualen Regeln manifestierte (in der Sicherheit, am Ende freizukommen) ist gebrochen.

Viel hat dazu wohl beigetragen, daß am Wochenende Riinas großes Vorbild, sein Gönner und Freund Luciano Liggio, gestorben ist – im Gefängnis; der erste große Boß, der nicht mehr freikam: Das hat mehr als nur symbolischen Wert, es könnte künftige Aspiranten vom Beitritt zur Mafia abhalten und mafiaintern Diskussionen um die Folgen künftiger Taten auslösen – die Autorität der Oberbosse wäre damit von Grund auf in Frage gestellt. Riina hat das erkannt.

Wollen sich die Männer der Cosa Nostra weiterhin durchsetzen und ihre weltweite Reputation aufrechterhalten, kann – erstmals in der Geschichte – die Mafia sich nicht mehr auf ihre Verfilzung mit Teilen des Staatsapparates verlassen. Das aber bedeutet, daß sie nun offen als Feind des Staates auftreten muß. Das erleichert, theoretisch zumindest, die Arbeit der Er-

mittler. Es läßt aber wohl auch noch den Rest Rücksicht schwinden, den die Mafia – trotz aller Bluttaten

– als einst doch partiell volksverwurzelte Organisa-

tion bis heute hie und da noch beachtet hat. Werner Raith