: Zurücknahmen
Vom Schauspieler-Theater der Commedia dell'arte zur Literatur und (fast) wieder zurück: Roberto Ciullis neue Inszenierungen zum zweihundertsten Todestag von Carlo Goldoni in Mülheim an der Ruhr ■ Von Gerhard Preußer
Goldoni refomierte das italienische Theater, indem er die Improvisationen von der Bühne verbannte und die Schauspieler auf die strikte Reproduktion des Dichterwortes verpflichtete. Seine Reform transformierte die Commedia dell'arte der Schauspieler in das literarisierte Theater der Aufklärung. Im Jahr des zweihundertsten Todestages Goldonis feiert Roberto Ciulli, der Leiter des Mülheimer Theaters an der Ruhr, seinen Landsmann, indem er diesen Schnitt scheinbar zurücknimmt. Den Titel für den ersten Teil seines neuen Doppelprojektes nimmt Ciulli von der Komödie, mit der Goldoni 1750 sein Programm zur Verbannung der Improvisation von der Bühne dem Publikum vorstellte: „Il Teatro Comico“ (Das Schauspieltheater); doch was dann auf der Bühne zu sehen ist, sind fixierte Improvisationen über Motive aus Goldonis „Der Impresario von Smyrna“ und „Il Teatro Comico“. Auf der Grundlage des Literaturtheaters stellt Ciulli die Autonomie des Theaters wieder her.
Die Bühne ist die Bühne, wie zu erwarten. Doch ganz deckt sich das Hier und Jetzt des Zuschauerraums nicht mit dem des in Szene gesetzten Bedeutungsraumes da vorne. Das Auditorium der Mülheimer Stadthalle ist zwar auf 200 Plätze verkleinert, aber leer ist es nicht – während die Schauspieler, die da nacheinander hereingeschneit kommen, offensichtlich in einen leeren Raum kommen. Wir blicken in die nahe Zukunft: Die Theater stehen leer, Schauspieler braucht niemand mehr. Nicht die Zuschauer bezahlen Eintrittsgelder, sondern die Schauspieler, die sich am alten Ort zu trostloser Erinnerung treffen. Als zu der vor sich hinbrütenden, mit ihren alten Eifersüchteleien beschäftigten Schauspielergruppe eine Neue kommt und als Beruf schlicht „Schauspielerin“ angibt, entsteht ein Tumult. Diesen Beruf gibt es nicht mehr. Man setzt ihr eine Pistole an die Schläfe und droht: „Jetzt wirst du sterben.“ Nur die Antwort „Kann ich nicht, hab ich nie gelernt“ rettet sie. Zu dieser Jammertruppe kommt ein reicher Türke (Goldonis türkischer Kaufmann Ali), der der überraschten Gesellschaft von Mimen erklärt, das Theater werde Stein für Stein abgetragen und in Smyrna wieder aufgebaut. Im zweiten Teil des Abends spielen die Schauspieler dem reichen Türken vor, um von ihm mit nach Smyrna genommen zu werden. Hier sind aus den Improvisationen wunderbar komische, kleine verfremdete Selbstportraits der Schauspieler des Mülheimer Ensembles entstanden, Studien der mit ihrer Person verbundenen Rollenklischees: Karin Neuhäuser, die laszive Diva, Maria Neumann, der marktschreierische Spaßvogel, oder Petra von der Beek als die ewig junge Geliebte.
Auch den Schluß verkehrt Ciulli in sein Gegenteil. Bei Goldoni findet die Reise nach Smyrna nie statt, weil der Impresario nicht kommt; bei Ciulli hingegen verkündet der Türke den Schauspielern: „Wir fahren doch schon seit langem.“ Das Dampfergeräusch wird dröhnend laut. Das Theater an der Ruhr ist in Fahrt, aber wohin? In die Emigration, in die schließlich auch der erfolgreiche Theaterreformer Goldoni am Ende seines Lebens getrieben wurde? Am zweiten Abend der Inszenierung des Doppelprojekts von Roberto Ciulli ist das Schiff angekommen: Veracruz heißt der Bestimmungsort nun, nicht mehr Smyrna; und nicht mehr Goldoni liefert den Reiseplan, sondern Euripides. Der Name der mexikanischen Hafenstadt dient als Titel für eine Parapharase der „Bakchen“, für deren Textfassung Ciullis Dramaturg Helmut Schäfer verantwortlich zeichnet. Diesmal begnügt sich die Inszenierung nicht mit Improvisationen über Themen der Vorlage, sondern kleidet die alte Geschichte vom Gott Dionysos und dem frevlerischen, ungläubigen König Pentheus in einen handfesten neuen Plot: In Veracruz wird ein Mann inhaftiert, weil er ohne Papiere ins Land gekommen ist. In der Nacht bringen die Wächter dieses Mannes, offensichtlich unter seinem Einfluß, zwei Prostituierte um und schlitzen ihre Leiber auf, als ob sie darin etwas suchten. Am folgenden Morgen wird der rätselhafte Fremdling, der sich Herr Schönflies nennt, von einem englischen Arzt namens Dr. Spencer, assistiert von der Dolmetscherin Frau Rohkitz, verhört. Hinter dieser Kriminalschmonzette verbirgt sich die Ankunft des Dionysos im Lande der Azteken. Der Gott ist des alten Europa müde und ist nun auf dem alten Emigrationsweg aus Deutschland über Paris, die Pyrenäen und Lissabon nach Mexiko gelangt. „Seit sich die mögliche Lebensfülle zum mathematischen Zeichen entfärbt hat, bleiben uns nur die frühen Kulturen“, doziert der Verhörte. „Die Arbeit an der Bibliothek menschlicher Träume war unmöglich geworden angesichts der umfassenden Reglementierung des Lebendigen“, so erklärt er seine Flucht aus Europa.
Schönflies wird gefangen gehalten wie ein Raubtier hinter einem riesigen die Bühne quer teilenden Gitter. Doch seine Gefängniszelle ist nicht leer und öde, sondern eine archäologische Sammel- und Forschungsstelle. Im letzten Drittel des Abends wird die Grenze hinfällig: Schönflies hat die Bewacher längst unter seiner Kontrolle; er geht durch die verschlossene Tür und spielt mit Dr. Spencer sein altes Spiel: Spencer wird Pentheus, Rohkitzer fügt sich in die Rolle der Agaue. So wird dann die alte Tragödie mit kurzgefaßtem Originaltext doch noch aufgeführt bis zum blutigen Ende: Agaue und Dionysos bringen die blutbeschmierten Körperteile des zerrissenen Pentheus auf die Bühne und bahren sie dort auf. Dionysos verläßt als Sieger den Ort seiner Gefangenschaft. Das zeitlos Irrationale, das schöpferische Naturprinzip der Verschmelzung triumphiert über die moderne, technische Rationalität.
Schönflies ist so überzeugt sein eigener Dionysos, wie Fritz Schediwy den Gott darstellt. Schediwy kann alle seine tierimitatorischen Künste zeigen: Er brüllt wie ein Gorilla, züngelt wie eine Schlange, hängt am Gitter wie ein Orang- Utan. Und als Dionysos mit langer blonder Frauenhaarperücke, originaler schwarz behaarter Männerbrust, irrem Augenrollen und gefletschten Zähnen hat er durchaus einen bizarren Charme. Veronika Bayer gelingt es sogar, aus der Übersetzungsmaschine Frau Rohkitzer, die jeden Satz Spencers ins Deutsche und jeden Satz von Schönflies ins Englische verdoppeln muß, so etwas wie eine Rolle zu machen. Volker Roos hat schon einmal den Pentheus als intellektuellen Büromenschen gespielt: in Ciullis erster Inszenierung der „Bakchen“ vor fünf Jahren. An bühnenwirksamer Gestaltung des orgiastischen Treibens der Bakchen war Ciulli damals wie diesmal uninteressiert.
Vergleicht man die beiden Inszenierungen Ciullis, so überwiegen die Verluste. Aus der rätselhaften, faszinierend reichen Bilderflut der Inszenierung von 1988 ist ein karges, düsteres Spiel mit klarer Botschaft geworden: Die Gesellschaft ist der Feind der Kunst. Die Selbstreflexion der Theaterkunst endet in der Goldoni- wie in der Euripides-Adaption in düsterer Kulturkritik und mit einer trotzigen Selbstaffirmation: Das Theater wird überleben, auch in der Isolation. Gewonnen hat Ciulli eine noch größere Freiheit gegenüber der Vorlage und die Konzentration auf die Schauspieler. Aller Bühnenzauber ist abgetan, auf der Bühne steht nur, was für das Theater wesentlich ist: der Schauspieler.
„Teatro Comico“ nach Motiven von Carlo Goldoni, „Veracruz“ nach Motiven von Euripides. Inszenierung: Roberto Ciulli. Bühne und Kostüme: Gralf-Edzard Habben. Weitere Vorstellungen:
„Teatro Comico“: 3., 4 und 12. Dezember, Stadttheater Fürth; 16. und 27. Dezember, Stadthalle Mülheim/Ruhr
„Veracruz“: 29. November, 4., 8., 11. und 26. Dezember, Ringlockschuppen Mülheim/Ruhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen