Titelseite + Traueranzeige: „Danke für diese Würdigung”

Die taz Seite 1 als Traueranzeige mit Bibelzitat, weil 400 Menschen im Mittelmeer ertrinken mussten: War das okay? Unser Publikum sagt: Ja.

Bild: Nicola Schwarzmaier

Ihre Reaktionen, also die Resonanz unserer LeserInnen, waren enorm und eindeutig. Sie schrieben uns: „Die taz bezieht Position, sehr gut!”, „Danke für diese Würdigung” oder schlicht „Respekt”. Und zwar bei Facebook, in jenem sozialen Netzwerk, in dem in erster Linie nach Herzenslust genörgelt und gemeckert wird. Das publizistische Statement, dem die Reaktionen galten, war die Traueranzeige für die 400 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge, die wir in der Ausgabe vom 16. April auf die Titelseite gedruckt haben.

Sie traf offenbar einen Nerv. Auf Facebook wurde das Motiv binnen weniger Stunden tausendfach geteilt – es hat bislang rund 1,5 Millionen Nutzer erreicht. Ein Rekordwert für die taz. Doch um die Geschichte von dieser journalistischen Titelentscheidung zu erzählen, müssen wir etwas sagen, was schon der Ehrlichkeit wegen nötig ist.

Eine von vielen Tragödien?

Als mich als Verantwortlichen der vorderen taz-Seiten am Morgen des 15. April beim Durchforsten der über Nacht eingelaufenen Nachrichten die Meldung von dem gesunkenen Flüchtlingsschiff im Mittelmeer erreichte, habe ich auch erst nur mit den Schultern gezuckt: eine von vielen, leider vielen Tragödien.

Die professionelle Deformation eines Redakteurs, der ständig mit viel zu schlechten Nachrichten umgehen muss.

Aber dann war da diese Zahl. 400. Wahrscheinlich vierhundert Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Mehr noch als bei dem Unglück vor der italienischen Insel Lampedusa, das im Oktober 2013 einen europäischen Aufschrei ausgelöst hatte. Das berührt. Das lässt einen nicht kalt. Und damit war klar: Das ist ein Thema für die taz, das muss es sein. Zum Glück hatte Michael Braun, unser Italien-Korrespondent, nicht auf unseren Anruf gewartet, sondern längst einen Text geschickt, der nicht nur das Unglück schildert, sondern auch noch die Reaktionen von Teilen der italienischen Politik. Das gehört also nicht irgendwo hinten ins Blatt, sondern vorne auf die Schwerpunktseiten und auch auf die Titelseite. Nur wie?

Wir setzen auf unser Gefühl

Gute Titelseiten entstehen häufig im Team. Hier hat jemand eine Idee, dort spielt sie jemand weiter, ein Dritter baut darauf auf. So lief es auch in diesem Fall. Grundsätzlich gab es zwei Möglichkeiten: Entweder wir setzen eher auf die Nachricht. Aber dafür braucht man gemeinhin auch ein Foto, und von solchen Unglücken gibt es natürlich sehr selten geeignetes Bildmaterial. Oder setzen auf das Gefühl. Unser Gefühl. Und das war in diesem Fall: Hilflosigkeit. Und Trauer. So kamen wir auf die Anzeige. Doch wie genau sieht sie aus? Gemeinhin steht dort der Name des oder der Toten. Aber wir hatten keinen Namen, wir hatten nur eine Zahl. 400 Flüchtlinge. Flüchtlinge? Nein, es sind Menschen. 400 Menschen. Das war schnell klar. Auch die Formulierung „Plötzlich und leider nur zu erwartbar” und die Aufforderung am unteren Ende „Statt Blumen bitten wir um eine Spende an eine Organisation, die Flüchtlingen hilft” war unstrittig.

Für Diskussionen hingegen sorgte das Bibelzitat auf dem oberen Teil der Titelseite. Kurz vor der Mittagskonferenz, bei der die taz.eins-Redaktion wie an jedem Tag den übrigen Redaktionsmitgliedern ihre Ideen für die Titelseite vorstellt, fiel uns auf, dass die meisten Traueranzeigen ein wegweisender Sinnspruch ziert. Wo man den auf die Schnelle herbekommt? Manchmal ist das banal: Bei Google „Bibelzitat” und „Flüchtlinge” eingeben, dann springt einem umgehend das Matthäus-Zitat ins Auge: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.”

Zu christlich?

Einigen in der Redaktion – und später auch in der Leserschaft – war das zu christlich, zumal die taz sich doch eher kirchenkritisch versteht. Andere meinten, es würde nicht passen, weil vielleicht viele der Opfer muslimisch seien. Im kleinen Kreis haben wir uns schließlich für das Zitat entschieden. Weil es passt – ganz egal, aus welchem Umfeld es stammt. Weil es appelliert, Gutes zu tun.

Und weil es auch trifft in einem Land, in dem Menschen aus angeblicher Sorge um das christliche Abendland gegen Flüchtlinge demonstrieren. Die größte Wirkung aber hat die Titelseite sowieso erst im Zusammenspiel mit der Konkurrenz entwickeln können. SZ, FAZ, Welt und die Bild sowieso hatten sich für das andere Thema entschieden: Bei denen war der Rücktritt Jürgen Klopps als BVB-Trainer das Hauptsächliche auf der Titelseite.

Eine Woche und ein noch größeres Unglück später haben auch die anderen Medien die Dramatik des Themas erkannt. Mag sein, dass die taz ein kleines bisschen dazu beigetragen hat.

GEREON ASMUTH, 49, leitet mit Klaus Hillenbrand das Schwerpunkt- und Seite-1-Ressort der taz