: Falsette wie in der Popmusik
■ Ein Gespräch mit Wolfgang Kelber, Dirigent des Münchner Heinrich-Schütz- Ensembles, über Kastraten, Countertenöre und Stimmideale
taz: Die Opernstars zu Lebzeiten von Gluck und Händel waren Kastraten. Hören wir Barockmusik heute richtig, wenn Tenöre in den Hauptrollen singen?
Wolfgang Kelber: Das ist eine Frage, wie man Musik überhaupt hört. Ein guter Tenor kann zum Beispiel die Arie „Ach, ich habe sie verloren“ aus Glucks „Orpheus und Eurydike“ genauso singen wie ein Kastrat der damaligen Zeit. Man muß einfach von der heutigen Realität ausgehen, wenn man alte Musik aufführt. Schließlich wollen wir ja auch kein musikalisches Museum produzieren.
Also war „Orpheus und Eurydike“ vor 200 Jahren kein vollkommen anderes Hörereignis als heute?
Das ist natürlich schwer zu sagen, weil wir unser Wissen über die Musik dieser Zeit nur aus der Literatur haben. Sicher waren diese Kastratenstimmen etwas ganz Besonderes, und man muß immer bedenken, wie sehr die Barockästhetik von der Künstlichkeit ausging. Die Leute fanden es prickelnd und faszinierend, wenn einer, der ein Mann sein sollte, eine extrem hohe Stimme hatte.
Gewöhnliche Männerstimmen wie Bass und Tenor waren damals nicht sehr gefragt. Auf der Bühne waren sie nur in Nebenrollen zu hören.
Man fand die hohen Stimmen schön wegen ihres Glanzes, wegen der Brillanz. Das ist ja heute nicht anders: Das Stimmideal der Popsänger gleicht meistens einem Tenor und niemals einem Bariton.
Das hat sich noch verstärkt, seit vor ein paar Jahren Countertenöre und Falsettisten eine Renaissance erlebten. Stehen sie in der Tradition der Kastraten?
Nein, rein biologisch und medizinisch natürlich erstmal nicht. Und auch nicht musikalisch. Der Countertenor ist eine typisch englische Erfindung. In den englischen Kirchenchören des 18. Jahrhunderts sangen Knaben den Sopran, während Baß, Tenor und Alt mit Männerstimmen besetzt waren. Daraus haben sich die Countertenöre entwickelt. Altpartien, die von einem Countertenor gesungen werden, haben oft einfach etwas mehr Kern. „Altus“ heißt ja „hoch“ auf lateinisch, und wenn so ein Countertenor mit der Stimme sehr weit nach oben geht, merkt man eben, daß seine Stimme hoch ist – und sicher. Darauf sind die Partien ja oftmals angelegt, besonders bei Händel.
Kann denn ein Countertenor eine Arie singen, die für Kastraten geschrieben wurde?
Da müssen wir unterscheiden zwischen Countertenören und Falsettisten, also Altisten, die nur mit der Randfunktion der Stimmbänder singen. Das ist eine andere Technik als der Countertenor. Jochen Kowalski zum Beispiel ist so ein typisches Beispiel für einen Altisten, man könnte sogar sagen, er ist ein Diskantist. Er kann ohne weiteres Partien singen, die für einen Kastraten geschrieben wurden, aber nicht einen Händelschen Alt.
Ob Countertenor oder Falsettist, das Publikum ist fasziniert.
Da spielt sicher auch das Unnatürliche eine große Rolle, besonders für den unerfahrenen Hörer. Da singt einer in einer Tonlage, in der er nie sprechen würde. Das ist eben auch eine ganz bestimmte Künstlichkeit, für die unsere Zeit offen ist.
Das erinnert mich an den Geschmack des Barockpublikums.
Na, denken Sie mal an die Popmusik. Da singen die Männer extrem hoch, die Frauen extrem tief. Gianna Nannini hat sogar einen Artikel darüber veröffentlicht, daß es keinen Unterschied zwischen Männer- und Frauenstimmen gibt. Dieser Trend spiegelt sich natürlich in der Rezeption von alter Musik genauso.
Eine Modeerscheinung?
Ästhetik ist ja nichts Starres. Am Ende des 18. Jahrhunderts postulierte die Aufklärung die Natürlichkeit als Schönheitskriterium und leitete damit das Ende der Kastratenära ein. Unsere Gesellschaft neigt wieder zum Künstlichen und Schrillen, aber das kann sich sehr schnell wieder ändern. Interview: Henrike Thomsen
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