: Vertauschte Rollen vorm Kreisgericht
■ Berliner Jungnazi erhält in Zehdenick 19monatige Bewährungsstrafe / Berliner Ärztepaar wurde von ihm im Sommer 1991 angegriffen / Schlampige Ermittlungen
Kurz nach neun Uhr wird es unruhig vorm Gerichtssaal. „Sie sind da!“ ruft ein BZ-Fotograf, und auch die Männer vom ORB-Fernsehen beziehen Position. Die Treppe hochmarschiert kommt Enno Gehrmann. Breit grinsend hastet er in Saal Nummer 6 im Kreisgericht Zehdenick und nuschelt ein „Hallo Jungs“. Sein Anwalt Aribert Streubel hat alle Lässigkeit verloren. Brüsk sucht er dem Fotografen die Kamera aus der Hand zu schlagen. Selbst im Gerichtssaal ist der Mann mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart, der von der rechten Szene gern aufgesucht wird, noch außer sich.
Streubel, soviel steht fest, sucht nach einem Revisionsgrund. Das Jugendschöffengericht in dem kleinen brandenburgischen Ort nordöstlich von Berlin scheint für einen Augenblick mit der Masse an Medien überfordert. Wenig später sitzen die Journalisten im Amtszimmer des Kreisgerichtsdirektors, der sie zur Zurückhaltung mahnt.
Der 22jährige Gehrmann, ausgebildeter Kommunikationselektroniker und derzeit Wehrpflichtiger, wirkt an diesem Tag nicht wie eine Größe der Berliner und Brandenburger Neonaziszene. Ein unscheinbarer Mann sitzt da im grünen Sessel und wird rot, weil ihn die Richterin nach Name und Geburtsdatum fragt. Doch hinter der Fassade des unschuldigen Jungen verbirgt sich ein agiler Kopf: Gehrmann hat einen Namen in der rechten Szene, gehörte 1992 – wie es der jüngste Berliner Verfassungsschutzbericht vermerkt – zur Führungsebene der mittlerweile verbotenen „Nationalistischen Front“ (NF), schrieb danach Artikel für den Angriff, das Mitteilungsblatt der NF-Nachfolgeorganisation „Förderwerk Mitteldeutsche Jugend“ (FMJ). So schweigsam, wie er sich im Gericht gibt, so munter plaudert er nach einiger Zeit auf dem Flur mit Journalisten. Er sei, sagt er, „nicht mehr richtig aktiv“, habe sich zurückgezogen. Schutzbehauptung oder Wahrheit: schwer auszumachen. Der politische Hintergrund des Angeklagten spielt an diesem Tag keine Rolle. Ein Verfahren wegen Volksverhetzung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener ist bereits verjährt, übrig bleibt gemeinschaftlich begangener Raub und gefährliche Körperverletzung. Die Tat, derer Gehrmann beschuldigt wird, liegt fast zweieinhalb Jahre zurück.
Schlampig und schleppend verliefen mehrere Monate lang die Ermittlungen, die selbst Brandenburgs Justizminister Hans-Otto Bräutigam (SPD) peinlich waren. Die Opfer, bei denen sich der Minister schriftlich entschuldigte, sind an diesem Tag Zeugen und Nebenkläger zugleich. Das Ehepaar Monika und Siegfried Veit hatte am 10. August 1991 auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück eine Gruppe Jugendlicher beim Verteilen und Anbringen von Flugblättern der NF beobachtet und fotografiert. Als die beiden Berliner Ärzte die Gruppe aufforderten, die Aktion zu unterlassen, kam es zum Handgemenge, in dessen Verlauf Frau Veit die Kamera entwendet und ihr Mann mit Schlägen und Fußtritten traktiert wurde.
Die Zeugenbefragung wird zu einem mühseligen Unterfangen. Weder die drei Mitarbeiter der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück noch ein damaliger Besucher noch noch Frau Veit können sich an Gehrmann erinnern. Lediglich Herr Veit ist sich sicher: Das sei der Mann, der damals seine Frau in den Schwitzkasten nahm, der den Befehl „Nehmt ihr die Kamera weg“ rief. Folglich konzentriert sich Streubel auf den 42jährigen Arzt an der Freien Universität (FU). Immer wieder versucht er, dessen Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Ob es denn stimme, daß Herr Veit Mitglied der Organisation „Amcha“ sei, die sich um NS- Opfer kümmere? Streubels Taktik lebt von Unterstellungen. Er ahnt, daß die Chancen seines Mandanten schlecht sind. Schließlich wurde Gehrmanns Wagen, mit dem die Gruppe flüchtete, auf dem Gelände gesehen, konnten Zeugen unabhängig voneinander die Kfz-Nummer notieren. „Vielleicht hat Herr Veit ja ein besonderes Interesse daran, meinen Mandanten wiederzuerkennen“, sagt Streubel. Für einige Minuten scheinen die Rollen vertauscht, sitzt plötzlich Siegfried Veit auf der Anklagebank. Immer und immer wieder kommt Streubel auf jenes Polizeiprotokoll zu sprechen, das am 10. August 1991 auf der Polizeistation in Gransee aufgenommen wurde und in dem der Arzt Veit erklärte, keine konkrete Personenbeschreibung abgeben zu können. Damals sei er davon ausgegangen, daß die eigentlichen Befragungen noch bevorstünden, wehrt sich Veit. Tatsächlich dauert es über eineinhalb Jahre, bis Veit Fotos vorgelegt werden und er darauf den Angeklagten wiedererkennt.
Am Abend des 24. November, nach fast zehnstündiger Verhandlung, verhilft das Gericht dem Ehepaar zu einem kleinen Sieg. Gehrmann wird wegen gemeinschaftlichen Raubes der Kamera zu einem Jahr und sieben Monaten auf Bewährung verurteilt, vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung jedoch freigesprochen. Eine Beteiligung an den Tritten gegen Siegfried Veit sei ihm nicht nachzuweisen gewesen. Den Schwitzkasten gegen Frau Veit wertete das Gericht hingegen als Handlung, um die Kamera zu entwenden. Severin Weiland
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