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Hoffnungslos parteilich

Das russische Fernsehen mischt auf Beschluß seiner Oberen und mittels Sendezeitpolitik kräftig beim Wahlkampf mit  ■ Von Jonathan Steele

Als die Liste „Rußlands Wahl“ zu Beginn der Wahlkampagne für die im Dezember stattfindenden Wahlen ihren Gründungsparteitag abhielt, fand nichts ohne Fernsehkameras statt. Die Abendnachrichten berichteten ausführlich über das Ereignis, und im Hauptsender „Ostankino“ gab es danach noch eine 40minütige Sendung mit Höhepunkten vom Parteitag.

Die Zuschauer konnten mehrere Minister und andere, Jelzin nahestehende, Politiker auf diesem Treffen bewundern. Da waren Jegor Gaidar, Vorsitzender der Blockpartei, der zufällig auch Vizepräsident des Landes ist, Michail Poltoranin, Vorsitzender der Bundesnachrichtenzentrale, und Wladimir Schumeiko, seines Zeichens Informationsminister. In der ersten Reihe saß der selbstzufrieden dreinblickende Nikolai Rjabow, Chef der zentralen Wahlkommission, den die Opposition „Minister für die Wahl“ nennt. Er hat die Richtlinien für die Wahlen ausgearbeitet – eine Aufgabe, mit der man in den meisten Ländern einen neutralen Menschen betraut hätte. Nicht so im „neuen“ Rußland.

Am selben Wochenende hielt ein weiterer Stellvertretender Premierminister den Parteitag seiner Blockpartei mit dem Namen „Russische Einheit und Eintracht“ ab, nämlich Sergej Schachal in Nowgorod. Daß die Fernsehzuschauer davon nichts mitbekamen, verwundert nicht weiter, denn dieses Ereignis wurde mit nur wenigen Sätzen und ohne Bilder in den Nachrichten bedacht.

Für die hoffnungslos parteiliche Berichterstattung des Fernsehens könnte es am Anfang der Wahlkampagne kaum einen klareren Beweis geben. Dabei werden die Kandidaten der Opposition nicht ignoriert – und selbst gegenüber Jelzins eigenen Ministern ist man nicht immer fair. Jedenfalls hörte man „von oben“ läuten, Jelzin wolle den Sieg der Liste „Rußlands Wahl“ – und so bekommt diese Liste nun den Löwenanteil an Fernsehzeit. Um das Bild abzurunden, muß man wissen, daß auch Wjatscheslaw Bragin, Intendant von „Ostankino“, selbst Kandidat von „Rußlands Wahl“ ist. Natürlich will auch er, daß seine Partei gut abschneidet...

Rußland hat nur zwei nationale Fernsehsender. Es wäre also schön, wenn man wenigstens dem zweiten, „Vesti“, eine gewisse Objektivität bescheinigen könnte. Leider ist aber auch er in den Händen des radikalen Flügels von Jelzins Gefolge. Da ist beispielsweise Arkadij Wolskij, einer der interessantesten politischen Langzeitüberlebenden Moskaus. Bekannt wurde er als enger Berater Juri Andropows, des ersten sowjetischen Staatschefs, der nach Breschnjews Tod vorsichtig zu reformieren begann. Später schloß er sich Gorbatschow an und initiierte in den letzten Tagen der Sowjetunion noch den Zusammenschluß von Unternehmern aus Handel und Industrie, einer bis heute mächtig gebliebenen Lobby von Staatsmanagern.

Wolskij gilt als „Zentrist“ und hat Gaidars wirtschaftliche Schocktherapie immer kritisiert; er behauptet, sie werde Rußlands Industrie vernichten. Obwohl er und seine Anhänger der freien Marktwirtschaft sind, stehen sie vor allem für den vorsichtigeren und langsameren Umbau des militärisch-industriellen Komplexes. Einfach die staatlichen Investitionen im Namen der Defizitbekämpfung zu kappen sei ohne privaten russischen oder ausländischen Kapitalersatz keine Option.

Wolskij ist Vorsitzender einer Liste „Bürgerunion für Stabilität, Gerechtigkeit und Fortschritt“. Als er sie der Öffentlickeit präsentierte, wurde merkwürderweise weder ein Reporter noch ein Kamerateam zu dem nur fünf Kilometer vom Studio entfernt stattfindenden Ereignis geschickt. Das einzige, was auf dem Bildschirm erschien, war der Nachrichtensprecher, der einen einzigen Satz, eine Agenturmeldung dazu, vorlas, die lediglich besagte, daß Wolskijs Liste zur Wahl antritt.

Angesichts dieser denkwürdigen Auswahl von Bericht und Nicht-Bericht sollte man denken, daß Oppositionsparteien, wie zum Beispiel die Kommunistische Partei Rußlands, besonders schlecht wegkommen müßten. Als das Datum der Wahl bekanntgegeben wurde, war noch nicht einmal klar, ob die KPR (CPRF) überhaupt würde antreten können. Schließlich hatte Jelzin sie kurz nach seinem Sturm aufs Parlament am 4.Oktober verboten und erst nach kritischen Berichten der Auslandspresse, die den Wert einer so einseitig betriebenen Wahl anzuzweifeln wagten, doch wieder zugelassen.

Diese Entscheidung jedoch war, wie es scheint, keinesfalls reine Großzügigkeit. Die Fernsehoberen haben nämlich beschlossen, die Wahl als Entscheidung zwischen der von Gaidar angeführten Liste und den Kommunisten darzustellen. Und dadurch haben die Kommunisten ironischerweise mehr Sendezeit bekommen als die Zentristen.

In den offiziellen Richtlinien zur Wahl ist natürlich niedergelegt worden, daß jeder Partei oder Liste gleichviel Sendezeit zur Vorstellung ihres Programms eingeräumt werden muß. Jeden Tag gibt es eine Stunde Extrasendezeit dafür. Das Dumme ist nur, daß diese Regeln nicht für die normale Nachrichtenberichterstattung gelten. Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, daß Zuschauer die „Werbespots“ politischer Parteien weniger ernst nehmen als das, was als „objektive“ Berichterstattung daherkommt. Deren Parteilichkeit ist der hauptsächliche Mangel dieser Wahlkampagne.

Interessanterweise war eine unsaubere Fernsehberichterstattung bei den letzten beiden Parlamentswahlen in Rußland kein Problem. Zwar wurden sie noch unter „sowjetischer Herrschaft“ abgehalten, aber die Kandidaten waren als Personen wichtig. Die Tatsache, daß fast 85 Prozent von ihnen Mitglieder der Kommunistischen Partei waren, funktionierte eher als neutralisierender Faktor. Mitgliedschaft in der Partei hatte damals nicht mehr viel zu sagen, und Kandidaten konnten antikommunistische Kommunisten sein wie Boris Jelzin oder Pro-Gorbatschow- Kommunisten wie Anatolij Sobtschak, der heutige Bürgermeister von Sankt Petersburg. Es gab konservative, radikale und zentristische Kommunisten. In dieser Vielstimmigkeit des Angebots hatte das Fernsehen wenig Chancen, die Ereignisse zu dominieren.

Tatsächlich war es bei den Wahlen 1989 und 1990 insgesamt angenehm altmodisch zugegangen. Die Wähler gingen zu Veranstaltungen und studierten Biographie und Programm ihrer lokalen Kandidaten aufmerksam in ihrer Regionalzeitung. In diesem Jahr wird die Hälfte der Sitze jedoch erstmals über Listenplätze vergeben, und dabei spielt dann das Fernsehen als nationale Einrichtung eine große Rolle; viele Kandidaten brauchen in „ihren“ Bezirken kaum noch aufzutauchen. Die Zeitungen haben an Bedeutung sehr verloren. Der Druck der Regierung auf die Presse nach den Ereignissen im Oktober ist im Ausland aufmerksam verfolgt worden. Zwei Tage lang wurde nach der Stürmung des Parlaments sogar das alte Sowjetsystem der Vorzensur wiederbelebt. Jeder einzelne Artikel mußte in den Druckereien Zensoren vorgelegt werden, die auch prompt nicht alles durchließen.

Nach heftigem Rauschen im Blätterwald der internationalen Presse gab Jelzin bekannt, dies sei dem Übereifer jener zuzuschreiben gewesen, denen er die Verwaltung des Notstands anvertraut hatte. Man schickte die Zensoren wieder nach Hause und erklärte ihnen, daß sie nun doch leider wieder allein mit der Rente auskommen müßten. Aber auch das war noch nicht das Ende der Geschichte. Die Regierung warnte die Zeitungen, daß „unerwünschte“ Artikel zu einem Verbot führen könnten. Man forderte die Redaktionen also zur Selbstzensur auf.

Zwei der wichtigsten Oppositionszeitungen, Prawda und Sowjetskaja Rossija, bekamen gesagt, sie könnten nicht weitererscheinen, wenn sie nicht ihre Chefredaktionen und ihre Namen auswechselten. Die Redakteure der Prawda akzeptierten die erste Forderung (ihre Chefredaktion war im Haus selbst nicht beliebt gewesen), nicht jedoch die Änderung des Namens. Die Regierung lenkte ein, und seit Anfang November erscheint die Prawda wieder. Sowjetskaja Rossija hatte es schwerer und war vier Wochen nach dem ursprünglichen Verbot noch nicht wieder erschienen.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß internationale Wachsamkeit und Proteste auf die Jelzin-Regierung immer noch wirken. Es ist jedoch traurig, daß Rußlands Zeitungen so stark an Bedeutung verloren haben. Die hohen Kosten für Vertrieb, Druck und Postversand haben die Auflagen dramatisch fallen lassen. In vielen Provinzstädten Rußlands sind die sogenannten nationalen Zeitungen am Kiosk nicht mehr zu haben.

Dies ist nur ein Grund mehr, warum dem Fernsehen bei den Wahlen eine Schlüsselrolle zukommt. Dennoch, man sollte die Bedeutung der Wahlen selbst nicht überschätzen. Dies sind nicht die ersten freien Wahlen, die in Rußland stattfinden. Die Wahlen von 1989 und 1990 und auch die Präsidentschaftswahlen von 1991, die Jelzin an die Macht brachten, waren ausgesprochen fair, vor allem angesichts der Tatsache, daß man in Rußland dergleichen nicht hatte, seit die Großeltern der heutigen Wähler im Dezember 1917 eine konstitutionelle Versammlung wählten.

Auch die Dezemberwahlen werden Rußlands größtes Problem nicht lösen können, das heißt, sie allein werden nicht einen Rechtsstaat und eine Kultur des politischen Kompromisses schaffen können, die dieses Land nie gekannt hat, weder vor noch im, noch nach dem Kommunismus. Ein weniger parteiliches Fernsehen, das unabhängig, fair und offen über verschiedene politische Meinungen berichtet, wäre ein wichtiges Element in diesem Land, das immer noch ein eher unklares Bild von sich selbst nach innen und außen projiziert.

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