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Ein Archiv der Täter, nicht der Opfer

Mitte nächsten Jahres wird das „Berlin Document Center“ eine Außenstelle des Bundesarchivs in Koblenz / In dem Archiv in Zehlendorf liegen mindestens hundert Millionen NS-Dokumentenblätter  ■ Von Anita Kugler

Eines der brisantesten Archive der Welt liegt in einer lauschigen bürgerlichen Idylle im Südwesten von Berlin. Hier, am Ende eines schmalen Weges mit dem Namen Wasserkäfersteig, befindet sich das „Berlin Document Center“ (BDC). Über 45 Jahre lang stand es unter der Kuratel der „US Mission“, am 1. Juli 1994 wird es zur Außenstelle des Bundesarchivs in Koblenz. Das Übergabeabkommen zwischen der amerikanischen und deutschen Regierung wurde Mitte Oktober unterzeichnet. Das Archiv im grünen Herzen von Zehlendorf ist mit Maschengitterzaun, Stacheldrähten, Außenspiegeln, Videokameras, Infrarot-Bewegungsmeldern, rund um die Uhr präsentem Wachschutz, Pförtnern und einem ausgeklügelten Ausweissystem gut bewacht. Geschützt werden ein paar unauffällige Gebäude, unter denen bombensichere Kellergänge liegen. Früher war dieser Hochsicherheitstrakt die Telefon-Abhörzentrale der Gestapo, jetzt liegen hier auf endlos langen Regalen und ordentlich in Abertausenden von Archivschubern gestapelt hochbrisante Akten und Karteikarten, mindestens hundert Millionen Dokumentenblätter:

Die Daten von 10,7 Millionen NSDAP-Mitgliedern, 600.000 NSDAP-Mitgliedschaftsanträge, 61.465 SS-Führer-Akten, die Personalunterlagen von 260.000 SA- Männern und 230.000 SS-Angehörigen, die Daten von vielen hunderttausend Mitgliedern des NS- Lehrerbundes und der NS-Frauenschaft, dazu noch anderthalb Millionen Seiten Parteikorrespondenz sowie die Unterlagen des Rassen- und Siedlungshauptamtes SS, des Obersten Parteigerichts, der Reichskulturkammer, des Volksgerichtshofes, der Reichsärztekammer, der Einwandererzentralstelle Litzmannstadt und des Rückwandereramtes. Wer immer im Dritten Reich Funktionsträger war, die Biographie ist hier zu entschlüsseln. Das BDC ist ein Archiv der Täter, Unterlagen über deren Opfer machen nur etwa fünf Prozent des Bestandes aus.

Stefan Heym und der Papiermüller Huber

Daß es diese Akten überhaupt gibt, ist einem Glücksfall zu verdanken. So jedenfalls die Darstellung des Schriftstellers Stefan Heym, der am 30. April 1945 als Sergeant der 7. Amerikanischen Armee beim Aktenfund dabeigewesen sein will. Seine Jeep-Besatzung, so Heym, hätte an diesem Tag, kurz vor der Kapitulation, ein Dorf vor München kontrolliert. Vor einer Papiermühle habe der Müller Hans Huber die Amerikaner gestoppt und ihnen Ungeheuerliches gezeigt. Berge von Akten, insgesamt 65 Tonnen, die er von Offizieren der SS kurz zuvor bekommen hatte, um sie zu vernichten. Wozu er keine Lust hatte, denn die Deutschen waren auf der Flucht und die Amerikaner im Anmarsch. Diese Akten des unbotmäßigen Müller sowie weitere Funde in einem Salzbergwerk bei Berchtesgaden brachten die Amerikaner in die ehemalige Abhörzentrale und bildeten den Grundstock des Dokument Centers.

Später kamen Tonnen von Papier aus allen zentralen Nazi-Behörden von Königsberg bis Köln, von Flensburg bis Österreich hinzu und wurden in Berlin von den vier Siegermächten gleichermaßen benutzt. Zum Beispiel bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen bei den Nürnberger Prozessen oder für die Bearbeitung von Einwanderungsanträgen in die USA. Aber schon 1948 endete die alliierte Einigkeit über das „Nazi-Archiv“. Als die Sowjets den Kontrollrat verließen, sperrten die Amerikaner ihnen den Zugang, und die Sowjets rückten im Gegenzug ihre „ausgeliehenen“ Bestände nicht heraus. Das waren vor allem Unterlagen über Kommunisten, die vor dem Volksgerichtshof angeklagt waren und jetzt die DDR aufbauten, aber auch Polizeiakten und Dossiers über das „Euthanasie-Programm“. Nach der Wende fanden sie sich wieder, in den Beständen der Hauptabteilung IX/11 des MfS in Hohenschönhausen. In Deutschland geht eben nichts Bedrucktes verloren – fast nichts. Denn einige tausend Aktenblätter, die einmal im BDC lagerten, sind bis heute spurlos verschwunden. Sie wurden gestohlen.

Von Gerhard Frey und den Dokumentenräubern

Der erste Hinweis, daß Dokumentenhehler Bestände des Archivs ausräuberten, tauchte zu Beginn der achtziger Jahre auf. Damals wurden dem früher noch halbwegs seriösen, heute rechten britischen Historiker David Irving Schriftstücke aus der Reichskanzlei Adolf Hitlers angeboten. Er berichtete davon dem Bundesarchiv, und die Experten stellten fest: Das Material stamme zweifelsfrei aus dem BDC. Alle Bemühungen, die Diebe zu finden, blieben ergebnislos. Aber dann erschütterten 1988 zwei große Skandale die amerikanischen Archivbesitzer und die wegen Erpressungen besorgte Bundesregierung. Als erster gestand der rechtsextreme Zeitungsverleger Gerhard Frey, daß er etwa 20 Infiltranten, darunter David Irving und den kanadischen Historiker Klaus Herrmann, gebeten hatte, im BDC „Ermittlungen über die Vergangenheit maßgeblicher Personen anzustellen“. 700 Politiker, darunter Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, sollten für ein Erfolgshonorar von 1.000 Mark pro Akte ausgeforscht werden.

Und genau in dieser unangenehmen Situation fanden Reporter der Berliner Morgenpost heraus, daß es seit Jahren in Militaria- Kreisen einen schwunghaften Handel mit Nazi-Akten aus dem BDC gab. Mindestens 10.000 Dokumentenblätter waren im Umlauf. Das brisanteste Stück, die komplette Originalakte von Klaus Barbie (Gestapo-Chef von Lyon, Frankreich) tauchte auf einer Auktion in St. Louis auf. Es folgte ein gewaltiger Wirbel über die laxen Sicherheitsbestimmungen im BDC. Die seit 1967 laufenden Verhandlungen zwischen den USA und der Bundesregierung über eine Aktenübergabe bekamen neues Tempo. Ende 1988 willigten die Amerikaner schließlich ein, das Archiv den Deutschen zu überlassen, zuvor müsse aber der gesamte Bestand für das National Archive in Washington auf Kosten der BRD mikroverfilmt werden.

Wenige Monate nach diesem Vorvertrag fand vor dem Landgericht Berlin auch der Prozeß gegen die Aktendealer statt. Als Haupttäter verurteilt wurden der frühere Leiter der Fotoabteilung, der Amerikaner Alfred Darko, und der Hamburger Militaria-Auktionär Andre Hüsken. Insgesamt standen damals 70 Personen in dem Verdacht, als Diebe, Hehler und Käufer in den Dokumentenhandel verwickelt zu sein, gegen 20 von ihnen wurde ermittelt. „Ein beachtlicher Teil“ der Verfahren soll laut dem heute dafür zuständigen Oberstaatsanwalt Bernd Wolke immer noch nicht abgeschlossen sein.

David G. Marwell und die Abwicklung des BDC

„Dieser Aktenklau war weniger schlimm als anfangs befürchtet“, sagt der jetzige Leiter des BDC, der Amerikaner David G. Marwell (38). Den Dieben sei es nicht um die politische Brisanz der Dokumente gegangen, sondern um „schöne Unterschriften von Nazi- Größen“. Ihm sei auch kein Fall bekannt, wonach deutsche Politiker mit Erkenntnissen aus dem BDC erpreßt worden seien.

David Marwell wird in die Geschichte des BDC als sein „Abwickler“ eingehen. Sein Arbeitsauftrag lautete, als er den Job 1988 übernahm: das Archiv sichern, die Dokumente konservieren und restaurieren, die Bestände verfilmen und computerisieren und die Übergabe an das Bundesarchiv reibungslos organisieren. Die heutigen strengen Sicherheitsmaßnahmen gehen auf sein Konto. Fast alle Unterlagen sind bereits verfilmt und fast alle Namen in einen superschnellen Computer eingegeben und durch eine raffinierte Logistik miteinander vernetzt. Auf diese Logistik ist David Marwell sehr stolz. Sie wird Wissenschaftlern ganz neue Forschungsperspektiven eröffnen.

Und zufrieden ist David Marwell auch, daß es ihm gelungen ist, im Übernahmevertrag mit der Bundesregierung eine Arbeitsplatzsicherung für seine knapp 50 deutschen Mitarbeiter festzuschreiben. Nur sein Job und der seines Stellvertreters werden „leider“ neu besetzt. Der Amerikaner mag Berlin, und das BDC kennt er aus allen Perspektiven. In den Siebzigern forschte er als Doktorand über Hitlers Auslandspressesprecher Ernst Hanfstaengel, und später stellte er als Mitarbeiter der „Kriegsverbrecherabteilung“ des US-Justizministeriums eine Menge Anfragen an das BDC.

Diese traditionellen Aufgaben des Archivs, nämlich Aufklärung über Kriegsverbrechen und Nazi- Aktivitäten, werden in Zukunft weniger werden. Die großen Gerichtsverfahren sind vorbei, und auch die „Zentralstelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen“ kann aus dem BDC nur noch wenig Neues erfahren. Heute hat es vornehmlich mit drei unterschiedlichen Arten von Anfragen zu tun. Zum einen sind das Routinefragen von deutschen Dienststellen zu Renten-, Vermögens- und Staatsangehörigkeitsproblemen. Im vergangenen Jahr checkte das BDC für Behörden etwa 40.000 Namen.

Die zweite Art von Anfragen sind wissenschaftlicher Art. Vor 1988 mußten sich deutsche und insbesondere Berliner Wissenschaftler einem ziemlich komplizierten Bewerbungsverfahren unterziehen. Benutzungsanfragen beantwortete nicht das BDC, sondern in Berlin der Innensenator. Durch persönliche Prüfung wollte man ausschließen, daß sich unter die Benutzer keine Ost-Wissenschaftler mischten. Diese Zeiten sind, seitdem Berlin das 1988 erlassene Bundesarchivgesetz übernommen hat, vorbei. Seitdem wurde keinem deutschen Wissenschaftler mehr der Zugang verwehrt.

Die dritte Art von Anfragen sind privater Natur. Ihre Anzahl wird „extrem“ steigen, glaubt Marwell, im vergangenen Jahr waren es „Tausende“. Kinder und Kindeskinder wollen über das BDC die wahre Geschichte ihrer Vorfahren wissen. „Dazu gehört viel Mut“, meint Marwell, denn über den Nationalsozialismus zu forschen sei eine Sache, über den eigenen Nazi-Großvater eine völlig andere. Interessenten müssen aber, wenn die Angehörigen vor weniger als 30 Jahren gestorben sind, eine Einverständniserklärung der nächsten Angehörigen vorlegen. Diese Schutzfrist von 30 Jahren wird nur dann auf Antrag verkürzt, wenn „berechtigte Belange“ vorliegen oder „schutzwürdige Belange der Betroffenen angemessen berücksichtigt werden“. Das BDC hat 1988 das deutsche Archiv-Gesetz übernommen, obwohl nach amerikanischem Archivrecht die Privatsphäre eines dritten sofort nach dem Tode erlischt. Durch den Besitzerwechsel Mitte 1994 wird sich also im Prinzip nichts ändern, eher im Gegenteil. Über die Frage, was „schutzwürdige Belange“ sind, wird es aber mit Sicherheit noch zu Streit kommen. Es besteht die Gefahr, daß mit Hinweis auf die teils geschützten Nazi-Unterlagen im BDC die bisher uneingeschränkte Benutzung der Stasi-Archive restriktiver gehandhabt werden könnte. Die grundsätzliche Diskussion über eine eventuelle Schließung der Stasi-Akten könnte ab dem 1. Januar 1994 erneut Auftrieb erhalten. Dies bestätigen auch Mitarbeiter des Koblenzer Bundesarchivs. Fest steht, daß es eine Ungleichbehandlung von kleinen Stasi-Zuträgern und großen Nazi-Bonzen gibt. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist zwar umstritten, aber ein Nazi-Unterlagen-Gesetz hat es in der Bundesrepublik nie gegeben. Es fehlte der politische Wille.

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