: Ich sehe was, was ich nicht sehen kann
■ Das Akko-Theater aus Israel setzte seine Arbeit mit Interviews und Recherchen in Berlin fort: Wie lassen sich Gedächtnislücken nach dem Holocaust überbrücken?
„Jeder bekommt, was er verdient.“ David Maayan, Leiter der aus Akko in Israel stammenden Theatergruppe, muß grinsen. Nachdem sie mit ihrer ungewöhnlichen Produktion „Arbeit macht frei vom Toitland Europa“ im vergangenen Jahr in Berlin und in diesem Sommer in Hamburg gastiert haben, ist die Einladung nach Berlin im Rahmen der Jüdischen Kulturtage nur folgerichtig. Toitland heißt nicht etwa Deutschland, sondern Todesland. „Arbeit macht frei vom Toitland Europa“ war eine fünfstündige Reise in die Vergangenheit, war Erinnerungsarbeit, Trauerarbeit: Was erinnern wir? Wie erinnern wir? Wie läßt sich Erinnerung rekonstruieren, wie läßt sie sich festhalten? Was bedeuten Erinnerungsrituale? Was verhindern sie? Jahrelang hatte die Gruppe in Form von Interviews für dieses Projekt recherchiert, Erinnerung rekonstruiert: in Form von Selbstbefragung, Interviews mit Zeugen und Überlebenden des Holocaust, Sichtung des vorhandenen Interview- und Dokumentarmaterials. Vorarbeiten für einen Theaterabend, der die Zuschauer an die verschiedensten Orte geführt, sie durch die verschiedensten Erinnerungskanäle geschleust hat. Ein gewaltsamer Befreiungsschlag.
Auch jetzt in Berlin machten die Israelis wieder Interviews. Im Künstlerhaus Bethanien richteten sie für vier Abende ein Gesprächslaboratorium ein, setzten dort Live-Interviews in Szene. Wer wollte, konnte reden; wer wollte, konnte zuhören und zugucken. „Die meisten Menschen denken, Voyeurismus sei so etwas wie eine Krankheit“, meint David Maayan später im Gespräch, „etwas, das außerhalb unserer Gesellschaft angesiedelt ist. Sie benutzen das Wort wie einen Moralkodex, der sie davor schützt, in etwas mit einbezogen zu werden, was sie auf unbekannte Pfade führen könnte. Ich betrachte Voyeurismus als eine Art des Protestes: Ich möchte frei wählen können, was ich sehen will, sagt der Voyeur – auch wenn der andere es mir nicht zeigen will.“
Bei „l Lab U“ – wie der englisch auszusprechende Titel des Berliner Projekts lautete, wobei sowohl das Klinische und Artifizielle im Laboratorium anklingt, zugleich aber auch auf das dafür notwendige Einfühlungs- und Kommunikationsvermögen angespielt wird – war freie Wahl garantiert; man konnte zusehen und zuhören, und doch blieb die Intimität der Redesituation in bestimmter Weise gewahrt. Zehn weiße Gesprächskabinen waren in einem abgedunkelten Raum aufgestellt; fünf waren von vornherein durch je ein Mitglied des Akko-Theaters besetzt, in den verbleibenden fünf konnten willige Interview-Partner – und die gab es genug – Platz nehmen. Über Videokameras waren die Gesprächspartner miteinander verbunden, konnten einander aber weder wirklich sehen oder berühren noch durch die verspiegelten Fenster die im abgedunkelten Raum herumwandernden Zuschauer sehen. „Wer die Kabine betreten hat, vergißt vollkommen, was um einen herum ist“, berichtet David Maayan nach dem ersten Abend. Auf einer höher gelegenen Galerie waren Monitore aufgestellt, vor denen der mit Kopfhörern ausgestattete Zuschauer den gefilmten Kabinengesprächen folgen konnte. Zunächst ein ästhetisch ganz reizvolles Verwirrspiel – welche Stimme gehört zu welchem Gesicht?
Erst allmählich wurde auf Zuschauerseite das wilde Zappen zwischen den verschiedenen Kanälen durch längeres Zuhören abgelöst. „Interessanterweise wurde an diesem ersten Abend so gut wie überhaupt nicht über das Thema Holocaust gesprochen“, berichtet Maayan. Vor allem sind es Familiengeschichten, die erörtert werden – bis zum Vorsingen von Schlafliedern ist alles drin. „Ich bin mir aber sicher“, meint Maayan weiter, „wenn wir die Treffen fortsetzen könnten, würden wir letztlich an diesem Punkt anlangen.“ Für ihn ist alles mit diesem Trauma verbunden – das gilt für Israelis wie für Deutsche, das gilt auch noch in der zweiten und dritten Generation, die besonders unter bestimmten Tabuisierungen zu leiden hat. „Wenn man den Code erst einmal geknackt hat, wird das Leben einfacher“, sagt Maayan. „Die Last wiegt nicht mehr so schwer auf unseren Schultern. Ich bin sehr froh, in Berlin im Jahr 1993 angekommen zu sein – und nicht im Jahr 1945 stehenbleiben zu müssen.“
Zu Beginn des Abends im Künstlerhaus Bethanien spricht David Maayan einige erklärende Worte. Er betont, daß es sich um keinen Theaterabend handelt, sondern um Vorarbeiten für ein neues Projekt. Bei den Vorarbeiten für „Arbeit macht frei“ waren die Akko-Leute auf etwas gestoßen, was ihre ganze Theaterarbeit beeinflussen sollte. Immer wieder wurden sie bei ihren Befragungen von Zeitzeugen mit dem Problem konfrontiert, daß sich bestimmte Erinnerungen verschließen. Aber Gedächtnislücken lassen sich überbrücken; viele der Befragten wußten sich zu helfen, indem sie fehlende Zwischenstücke in einer sehr real erinnerten Geschichte hinzuerfanden. Was sie erfanden, nahmen sie aus einem persönlichen Fundus an Bildern und Geschichten, womit also Erinnerungen hochgeholt werden konnten, die möglicherweise an ganz falschen oder unzugänglichen Plätzen des Gedächtnisses gelagert waren.
Mit diesem kollektiv wie individuell vorhandenen Fundus an Bildern und Geschichten arbeitete das Akko-Theater, entwickelte daraus ein theatralisches Konzept, das mit psychologischem Theater im engeren Sinn nichts zu schaffen haben will.
David Maayan beschreibt es als einen etwas phantastischen Traum, der ihn auch auf die Idee der Videoinstallation für die Interviews gebracht hat: „Es ist wie eine große geistige Kirmes. Man geht auf einer Seite herein, bekommt verschiedene Aktivitäten geboten, die alle durch eine bestimmte Struktur mit der eigenen Wirklichkeit zu tun haben. Und dann kann es einem passieren, daß man ganz anders wieder herauskommt, um eine Erfahrung reicher. Das ist wirklich größenwahnsinnig als Anspruch, ich bin mir dessen bewußt. Aber es geht.“
Es geht, es geht weiter. Demnächst wahrscheinlich in Hamburg. Dann wird sich wieder – wie bei einem Adventskalender – ein Fensterchen zum Hof, zur Vorhölle, zur Vergangenheit und damit zur Gegenwart öffnen. Sabine Seifert
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