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Anstößige Teile sind deutlich zu erkennen

■ Ausstellung am Rande der Aufklärung: "REAL Real" in der Wiener Secession. "REAL Sex" im Salzburger Kunstverein

„I wonder how thin the wall has become ...“ Das Text-Bild von Jochen Gerz beginnt wie ein möglicher Leitsatz zu „REAL Real“. Die Schutzmauern zwischen Kunst und Realität sind einmal mehr dünn geworden; unerwünscht seit Beginn der Neunziger, der Kunstdekade mit ihrem erneuten Ruf nach Einmischung, politischer Aussage, Brisanz. „I wonder how thin the wall has become shielding me from what I am“, und weiter: „If there were ever a law besides me to hold it up it was easy to live in.“ In zwei Sätzen wird hier das Thema der Ausstellung besser formuliert, als es der Kuratorin Eleonora Louis auf neun Seiten Katalogtext gelungen ist: wie der Spezialfall Künstler das Regelsystem Gesellschaft erlebt – und was er daraus macht.

„REAL Real“ in der Wiener Secession ist neben „Real Sex“ Teil eines vierteiligen Projekts, bestehend aus den besagten zwei Ausstellungen, einer „realen“ Aktion („REAL Aids“ verwandelt den Grazer Kunstverein in ein Informationsbüro der Grazer Aidshilfe) und einem Buch („REAL Text“, erschienen beim Ritter Verlag, versammelt Beiträge u.a. von Douglas Crimp, Paul Feyerabend, Peter Gorsen, Richard Rorty, Jaqueline Rose, Salvatore Settis). Alles zusammen ergibt eine Art geistiges Bezugsnetz zwischen vier Orten, an denen der Versuch unternommen wurde, zu zeigen, daß Kunstmachen, Schreiben und soziales Handeln Synonyme für zeitgemäßes Denken in der aktuellen Kulturproduktion sind.

Doch „REAL Real“ ist keine modische Polit-Schau. Im Gegenteil – eher introspektiv als agitatorisch und, mit Arbeiten aus einem Zeitraum von über dreißig Jahren bestückt, eher museal als zeitgeistig. Viele Kritiker haben etwas unwirsch danach gefragt, was Robert Smithson, Eva Hesse, Marcel Broodthaers, André Cadere, Jef Geys, Valie Export, Jochen Gerz, Shane Cullen, Marc Quinn und Rirkrit Tiravanija eigentlich gemeinsam haben sollen. Es ist ihre vermeintliche Autonomie innerhalb der Gesellschaft: Das Projekt der Aufklärung, dem Menschen im Vertrauen auf seine Mündigkeit weitestgehende Selbstbestimmung einzuräumen, sei – so Louis' These – gescheitert.

Regeln, Normen, gesellschaftliche Determinanten aller Arten bilden unangefochten ein existentielles Gerüst, innerhalb dessen persönliche Freiheiten gerade mal in wohldosierter Anstößigkeit toleriert werden. Die Künstler freilich, die ja bekanntlich der Selbstverwirklichung ein gutes Stück näher sind als Otto Bürohengst oder seine Gattin, kümmern sich nun stellvertretend um einen „modellhaften Entwurf rund um die Bestimmung vom Selbst-Sein“. Weil die eben, das hat man sich ja schon immer so gedacht, doch machen können, was sie wollen.

Zum Beispiel etwas so „Subversives“ (Zit. Katalog) wie André Cadere: verschiedenfarbige Holzringe auf Stäbe auffädeln, eine kalkulierte Farb-Reihenfolge suggerieren, in die aber Fehler eingebaut sind, und die Kunstwerke dann auch noch irgendwo auf der Straße ablegen. Oder die eigene Signatur, die das Werk erst markttauglich macht, so wie Marcel Broodthaers inflationär wiederholen und bildfüllend ausstellen (was aber vielleicht mehr über den Kunsthandel sagt als über Individualität). Oder wie Eva Hesse aus dem abgesicherten Kunst-Kanon ihrer Zeit, der Minimal art, ausscheren und die eigene Körperlichkeit als Erfahrungsmaß in Kunst übersetzen, die demnach organisch wuchert und vor unterdrückten Sexualneurosen vibriert.

Der Körper als „Schlachtfeld“, wie ihn Barbara Kruger genannt hat, als Austragungsort von Disziplinierungskämpfen, ist durchgängiges Thema bei „REAL Real“. In den siebziger Jahren läßt Valie Export fotografieren, wie sie sich der urbanen Architektur an- und einpaßt, ihren Körper an Bordsteinkanten entlangstreckt oder um Fassadenecken schmiegt. Nach dem Interessenwechsel der 80er Jahre – vom sperrigen Individuum zur glatten Warenwelt – darf der Körper gegenwärtig der Avantgarde wieder als Lieblingsmetapher zu Diensten sein. Bevorzugterweise fragmentiert oder bloß in Spuren erhalten: Rirkrit Tiravanija wirft alte Decken in die Ecke und bedient mit dem Obdachlosigkeits-Verweis die politisch korrekte Besucherfraktion. Marc Quinn hat einen Sommer lang wieder und wieder die Form seiner Hand in Brotteig gebacken, eine ganze Wand ist in der Secession mit diesen Brötchen gespickt (man registriert: manche sind angekohlt, keines jedoch angeknabbert). Für eine andere Arbeit hat er sich in Latex gehüllt, um die im Anschluß abgezogene schlaffe Gummihaut, deren anstößigster Teil sich am deutlichsten zu erkennen gibt, von der Decke baumeln zu lassen.

Wir sind, thematisch, nun schon auf halbem Weg in den Salzburger Kunstverein. „REAL Sex“: Hans Bellmer, Louise Bourgeois, Larry Clark, wieder Valie Export, Elke Krystufek, Greer Lankton, Pierre Molinier, Aura Rosenberg, Rudolf Schwarzkogler, Cindy Sherman. Am Eingang eine Warnung an Prüde und Eltern in Begleitung ihrer Sprößlinge. „REAL Sex“ braucht zur Fokussierung des Themas jede Menge nackter Geschlechtsteile, doch beinahe keine Geschlechtsakte (Ausnahme: Larry Clarks Fotoserie „Teenage Lust“ von 1972–74, in der er autobiographisch motiviert die sexuellen Aktivitäten einer Gruppe von Teenagern dokumentiert). Die Ausstellung ist auf Selbstwahrnehmung konzentriert, auf Geschlechtsidentität – und die Crux damit. Greer Lankton hieß früher Greg und dokumentiert den Weg vom Mann- zum Frausein in tagebuchartigen Zeichnungen. Das eigene Geschlecht (in beiden Bedeutungen, im Englischen so praktikabel mit sex und gender differenziert): immer unbewältigt, von monströser Fremdheit.

Mit jedem Blick in den Ausstellungsraum fällt die Ballung von Objekten auf, durch die Künstler und Künstlerinnen versucht haben, sich des Geschlechtlichen zu entledigen, es hinauszutransportieren aus der eigenen Seele. Lauter Dinge, die man mit ausgestrecktem Arm weit von sich hält, weil sie einem nicht geheuer sind; oder einem davor graut; oder aber, weil man sie so genauer zu sehen glaubt. Aura Rosenberg klebt Fotos von Genitalien auf Gesteinsbrocken, die dann irgendwo aufgeschüttet herumliegen, so daß keiner etwas damit zu tun haben muß. Schwarzkogler stülpt auf Portraits einen Fischkopf über seinen Penis, der glotzt dann kalt und blind und tot. Louise Bourgeois' Variationen von „Janus“, dem Doppelphallus, sind unendlich schwere Bronzetrümmer, die doch leichthin von der Decke baumeln wie Zimmerdekor. Autobiographische Bewältigungsarbeit wie die Inszenierungen der Puppe von Hans Bellmer oder die Selbstdarstellungen von Pierre Molinier sind rar. Bellmers Puppe, ein fragmentierter weiblicher Körper, muß sich verrenken, wie ihr Herr es wünscht. Moliniers Lust hingegen will, daß das Künstler-Ich sich selbstverordneten Ritualen unterzieht: Verkleidung und Maskierung, Selbstbefriedigung, Posieren als Hermaphrodit. Ein schwüler Masochismus, von dem in den Fotomontagen manchmal nur ornamentale Rosetten aus seidenbestrumpften Beinen und hochhackigen Schuhen bleiben. Auf den Fotos bearbeitet Molinier sein Abbild so lange, bis es starr und leblos erscheint wie eine Puppe. Und ein drittes Mal erscheint das Puppenmotiv: Die Körper und Glieder auf Cindy Shermans neuen Fotos versuchen keinen Moment, über ihre Künstlichkeit zu täuschen, über ihre Seelenlosigkeit, ihr Tot-Sein – ihre grobe Reduziertheit aufs Geschlecht und dessen Darbietung, die Gewalt, die ihnen offenbar angetan wird, macht die Beklemmung davor jedoch ganz „REAL“. Stella Rollig

Beide Ausstellungen bis 5. Dezember 1993

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