Das neue Chile, demokratisch und brav

Unterwegs mit Eduardo Frei, dem voraussichtlichen Gewinner der Präsidentschaftswahlen in Chile am 11. Dezember / Die beiden Hauptkandidaten wollen dasselbe – fast  ■ Von Ursula Grosse-Katthofer

Durch seine Glatze, die Sonnenbrille und den Maßanzug wirkt der Sicherheitschef wie Kojak. Gelassen schlendert er durch die Gasse der aufgeregten Menschen, die erwartungsvoll Sprechchöre skandieren und wild ihre Fahnen schwingen. Sein Funktelefon piepst, er wirft noch einen Blick auf die Masse und gibt sein Okay. Stürmisch bricht der Jubel los: Eduardo Frei kommt, der Mann, den Chile für seinen zukünftigen Präsidenten hält.

Freis Wahlkampftag beginnt in Cartagena, einem heruntergekommenen Badeort am Pazifik. Zu Anfang des Jahrhunderts sonnte sich hier die Elite Santiagos; heute ist der Strand dreckig, die Läden sind verrammelt. Die warme Frühlingssonne ändert nichts an der Tristesse. Durch das Spalier seiner jubelnden Anhänger geht Frei ins Rathaus von Cartagena. Ein langer Tag beginnt. Im Rathaus schildert Bürgermeister Hernán Cartagena dem Kandidaten Frei ein Problem, das zum Himmel stinkt: Die Stadt steht vor dem Müllkollaps. „Zu uns kommen viele Arbeiter aus Santiago“, beginnt er nervös, „arme Leute, Familien, sie bleiben einen Tag, vielleicht zwei, aber allerhöchstens drei. Wir gönnen den Leuten ja ihren Urlaub am Strand, aber sie bringen soviel Müll mit.“ Der Stadtrat fordert dennoch neue Gesetze, um den Tourismus zu fördern. Darin liege die zukünftige Devisenquelle Chiles.

Cartagena hat sich dem Bund der Tourismus-Städte angeschlossen, der einen Kongreß vorbereitet, um den Fremdenverkehr zu organisieren. Die Chilenen wollen aus den Fehlern der europäischen Tourismuszentren lernen, auf die Urlauber verzichten wollen sie auf keinen Fall. Frei antwortet dem Bürgermeister, daß er sich einsetzen wolle für Privatinitiative. „Der Staat ist für die Infrastruktur zuständig, die Privatwirtschaft muß darauf aufbauen“, sagt er und nimmt einen dicken Umschlag mit Forderungen entgegen.

Auf der Plaza de Cartagena feiern Alte, Frauen und Kinder. Noch dröhnen La-Cumbia-Rhythmen aus den Boxen, doch das ändert sich schnell. Die Nationalhymne unterbricht die Fiesta, die Menschen stehen still. Viele singen mit, eine alte Frau wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Frei singt auch mit, steif steht er auf dem Podium, das dunkle Haar sauber gescheitelt und mit viel Pomade nach hinten gekämmt.

Keine Experimente!

Dieser Mann, 51 Jahre alt, Ingenieur und Vater von vier Töchtern, ist kein charismatischer Volkstribun. Ihm fehlt die Dramatik, er symbolisiert Stabilität. Wahrscheinlich deshalb werden ihn die Chilenen am 11. Dezember zum Nachfolger seines seit vier Jahren amtierenden christdemokratischen Parteifreunds Patricio Aylwin wählen.

In Cartagena endet Freis Visite mit dem lauten Ruf seiner Anhänger „Frei si, otro no“, ein Slogan, mit dem schon sein Vater umjubelt wurde. Die Chilenen wählten Eduardo Frei senior, ebenfalls Christdemokrat, 1964 zum Präsidenten.

Arturo Alessandri, Freis stärkster Gegenkandidat, stammt ebenso aus einer Politiker-Dynastie. Er gehört zur dritten Generation, die in den Präsidentenpalast La Moneda einziehen will, sein Onkel Jorge unterlag Salvador Allende bei der Wahl 1970 mit einem Prozentpunkt. „Ich bin in der Moneda geboren“, verkündet der siebzigjährige Alessandri stolz. Er geht für die „Unión por el Progreso de Chile“ ins Rennen, einem Bündnis aus den drei rechten Parteien Nationale Erneuerung, Unabhängige Demokratische Union und Zentrumsunion.

Umfragen geben Alessandri knappe 20 Prozent, während Frei mit 60 rechnen kann. Die Grundidee beider Hauptkandidaten ist die gleiche: Stabilität durch eine starke Wirtschaft. Sie wollen eine bessere Gesundheitsversorgung, weniger Armut, weniger Straßenkriminalität und stärkere Kommunen, die nicht für jede neu zu teerende Straße in Santiago um Geld und Erlaubnis bitten müssen. Allerdings liegt Alessandris Gewicht stärker auf der Marktwirtschaft, Frei erwähnt soziale Belange häufiger. Alessandri will keine Steuererhöhungen, er malt im Wahlkampf eine schöne neue Welt mit ihm selbst an der Spitze und hegt den Hintergedanken, daß er nichts umzusetzen braucht, weil er sowieso verliert.

Der unabhängige Kandidat Manfred Max-Neef, deutschstämmiger Wirtschaftsprofessor, könnte Frei viel gefährlicher werden als Alessandri. Er zeigt sich alternativ, in Jeanshemd ohne Krawatte, mit dem Slogan „Warum nicht?“. Das übrige Trio besteht aus illustren Figuren, alle auf ihre Art eitel: Christian Reitze von den Grünen Humanisten lächelt wie der Herzensbrecher einer Fernsehserie, er will sich für Aidskranke, Schwule und Behinderte stark machen und ist offen für Abtreibung zur Minderung des Bevölkerungswachstums. Das Thema Abtreibung greift José Piñera ebenfalls auf, allerdings von der anderen Seite: Er spielt sich als starker Mann auf, der Abtreibungen bestraft, Straßenkriminalität verhindert und für Ordnung sorgt. Piñera kandidiert als Unabhängiger, beruft sich jedoch stolz auf seine Jahre an der Seite Diktator Pinochets. Dann gibt es noch Eugenio Pizarro, einen Priester, der für die Kommunisten in den Ring steigt. Als einziger beruft er sich auf den 1973 von Pinochet gestürzten Salvador Allende. Er will die Freilassung der politischen Gefangenen, von denen die Regierung behauptet, daß es sie nicht gibt.

„Wir wählen ihn alle, weil wir an ihn glauben“

San Antonio, die Stadt mit dem zweitgrößten Hafen Chiles, ist die nächste Station auf Freis Reise durch die Provinz. Hier wird das Kupfer aus der Mine El Teniente verschifft, doch der Hafen liegt zur Hälfte in Schutt. Ein Erdbeben zerstörte die Stadt vor acht Jahren, zwei Docks versanken im Meer, jetzt erst werden sie wieder aufgebaut. Unter Pinochet war San Antonio als roter Hafen verschrien, der Diktator ließ die Stadt links liegen und förderte die Konkurrenz in Valparaiso.

Gefolgt von Gewerkschaftern, Arbeitern, Hafenverwaltung, Abgeordneten und seiner Frau Marta Larraechea, steigt Frei über Trümmer, Schotter und Holzbalken, um den Neubau eines Docks zu besichtigen. Das Jackett hat er ausgezogen, der Wind treibt ihm Staub ins Gesicht; so mögen ihn die Arbeiter. Sobald Kameras auf ihn gerichtet sind, schüttelt er Hände oder wechselt ein paar freundliche Worte. Zwei Gewerkschafter überreichen ihre Forderungen schriftlich; man sieht, daß sie nicht gewohnt sind, Anzüge zu tragen. Sie wollen Fabriken und Landwirtschaft, damit San Antonio nicht nur vom Hafen abhängig ist. Die Bauarbeiter auf den Docks behandeln Frei nicht wie einen Kandidaten, sondern wie einen Präsidenten. „Wir wählen ihn alle, weil wir an ihn glauben“, sagt einer.

Im Konvoi führt die Fahrt weiter durch die Provinz. Jugendliche, die zum Jubeln angeheuert wurden, stehen mit wehenden Fahnen auf den Ladeflächen der Pickups. Häuserwände und Mauern sind bemalt mit den Namen der Parlamentskandidaten, Plakate hängen an Laternenpfählen. Die Menschen an der Straße winken begeistert, sie klatschen, einige springen vor Freude in die Luft. Nur eine ältere Frau steckt den ausgestreckten Daumen nach unten.

„Das ist der langweiligste Wahlkampf, den wir je hatten“, sagt Beobachter Osvaldo Vega enttäuscht. „Es gibt überhaupt keine Gegendemos.“ Als Chile 1988, noch in den Zeiten der Diktatur, mit einem Plebiszit über die politische Zukunft des Landes abstimmte, überschlugen sich die Wellen. „Ich oder das Chaos“, hieß Pinochets Devise. Wer für ihn stimmte, kreuzte die chilenische Flagge an, wer „No“ stimmte, machte sein Kreuz neben einem schwarzen Rechteck. Bei den ersten freien Wahlen, die das Plebiszit ermöglichte, glätteten sich die Wogen. Jetzt sind sie völlig verschwunden. Chile erlebt seinen kürzesten und teuersten Wahlkampf. Das Geld geht vor allem für Gehälter drauf, dann für die Reisen und erst an dritter Stelle für Propaganda.

Der Konvoi stoppt in Las Viudas (Die Witwen), einer población. So nennen die Chilenen ihre Armensiedlungen. Jetzt im Frühling, mit all den bunten Sträuchern und blühenden Bäumen, sieht Las Viudas aus wie eine verfallende Laubenkolonie. Die Holzhäuser sind klein, die Dächer aus Wellblech und die Bretterzäune schief. Wer es sich leisten kann, malt sein Haus bunt an, damit der rauhe Seewind es nicht zerstört.

Frei schüttelt Hände. Die Kinder einer Schule beugen sich aufgeregt über den hohen Schulzaun, geduldig läuft der Kandidat die Reihe ab und drückt jedem die Hand. „Wir führen einen amerikanischen Wahlkampf“, behauptet Claudia vom Wahlkomitee, „viel hand to hand und house to house, keine großen Spektakel.“

Allen wohl, keinem wehe

Frei verspricht nichts, denn er weiß, daß er an seinen Versprechen gemessen würde. Deshalb sagt er nur: „Wir können die extreme Armut überwinden“ – bis zum Jahr 2000. Dafür ruft er das ganze Land zu Hilfe.

Eine vierköpfige Familie, deren Einkommen unter 110.000 Pesos (450 Mark) monatlich liegt, gilt als arm. Fast jeder dritte Chilene gehört dazu. Die Menschen in Las Viudas fordern keinen Reichtum, sie wollen eine geteerte Straße. „Kommen Sie in die Häuser“, fordert ein Bewohner Frei auf, „die sind alle sauber und ordentlich. Aber die Straße hier ist nichts als Staub.“ Verächtlich spuckt er auf den Boden. „Bei Regen verwandelt sich das alles in Matsch und rutscht den Berg runter, unsere Kinder kommen nicht mal rauf zur Schule.“ Der Bürgermeister Elidio Soto wird kurz darauf eine bessere Stadtplanung fordern. „Die Leute werden im Dreck geboren und sterben im Dreck“, sagt er. 83 Jahre ist er alt und erst vor kurzem aus dem Exil zurückgekehrt.

Pinochet baute für die Armen nur Wohnhäuser. Sportplätze, Parks, Krankenstationen, Kinos, selbst Polizeireviere ließ er weg. Jetzt versucht Chile nachträglich, seine Städte zu planen, mit wenig Erfolg. Jede Gemeinde hat Probleme mit der Infrastruktur. Frei hat das oft gehört während seiner ersten Wahlkampfphase, die er Chile programa (Chile plant) nannte. Im ganzen Land ließ er sich die Nöte schildern, um daraus sein Wahlprogramm zu schreiben, das Programa de Chile. Da die Parteien seines Bündnisses, der Concertación, sich nicht immer einigen konnten, bleibt das Programm ein vager Kompromiß.

Zur Zeit ist zum Beispiel die Privatisierung der staatlichen Kupfergesellschaft „Codelco“ im Gespräch. Mit dem Kupferexport nimmt Chile 39 Prozent seiner Devisen ein, Tendenz fallend. Um die Firma mit ihren vier Kupferminen wieder wettbewerbsfähig zu machen, schlägt Frei eine staatliche Holding vor. Privatisieren will er nicht. „Codelco“ muß Personal entlassen – aus Regierungskreisen heißt es, zehn Prozent müßten gehen – die Concertación hütet sich aber, das Thema Entlassungen im Wahlkampf anzutasten. Nebulös kündigt sie im Programm eine „Politik der Mitbestimmung“ an.

Im Stadtzentrum von San Antonio ist es inzwischen dunkel. Auf der Bühne eines Lkws heizen „Beatles Forever“ dem Publikum mit „A hard days night“, „Help“ und „Revolution“ ein. Tausende sind gekommen, vor der Bühne wogt ein Fahnenmeer, die Straßen sind verstopft. Müdigkeit ist Frei anzusehen. Hymne, Rede – wie oft hat er das schon hinter sich?