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Nie fremdgehen, nie streunen

■ Nur fünfzehn Hauptstadt-Hunde begleiten in Berlin Tausende von Rollstuhlfahrern

Vor dem „Bolle“-Supermarkt am Kaiserdamm verschwand vor zwei Wochen die Hündin Kyra. Die Besitzerin Heide Frank-Barthel verzweifelte. Sie klebte Verlustanzeigen mit hohen Belohnungsversprechen in Charlottenburg, alarmierte Zeitungen, Funk und Fernsehen. Der Unterschied zu sonstigen Tierdramen aber: Die Medien reagierten prompt, der halbe Bezirk suchte Kyra.

Denn die pechschwarze Retrieverhündin ist bekannt wie ein bunter Hund. Sie ist eine perfekt ausgebildete „Rollstuhlbegleiterin“, eine von nur 15 in ganz Berlin und Brandenburg zusammen. Nie würde sie streunen, nie freiwillig mit einem Fremden nach Hause gehen, auch wenn man ihr Tartar vor die Nase legte. Nach einigen Tagen war Kyra dann auch wieder da. Der „SOS-Hundeverein“ hatte vermutlich recht gehabt mit seinem Verdacht. Schon seit Monaten würden „Junkies“ Hunde in Charlottenburg klauen, mit der Hoffnung, später einen satten Finderlohn einzustreichen.

Kyra fand sich nach einem telefonischen Hinweis auf einem Dachboden, an eine Heizung angekettet. Wäre Kyra nicht wieder aufgetaucht, wäre dies nicht nur eine Tragödie für die an MultiplerSklerose erkrankte Rollstuhlfahrerin Heide Frank-Barthel, 50, gewesen, sondern auch für den „Verein Behinderten-Begleithunde Berlin-Brandenburg e.V.“ Denn Frau Frank-Barthel ist dort Ausbilderin und die fünfjährige Kyra die „Vorzeigehündin“. Sie kann alles, was einem behinderten Menschen das Leben leichter macht. Heruntergefallene Dinge aufheben – sogar Geldmünzen –, Türen und Schränke öffnen, Schubladen herausziehen, Lichtschalter und Aufzugknöpfe drücken, den Rollstuhl ziehen, auf Kommando bellen, Brillen oder Schlüssel gezielt suchen, das Telefon bringen. Auf Kommando würde sie, sollte Frau Frank-Barthel jemals im Grunewald aus dem Rollstuhl stürzen, einen Spaziergänger suchen und ihn mit Schubsen und Jaulen zur Unglücksstelle bringen.

„Nur absolut friedliche und lerneifrige Hunderassen eignen sich zum Behinderten-Begleiter“, sagt Frau Frank-Barthel. Weil die Hunde, um im Notfall die fehlende Beweglichkeit ihrer Besitzer ausgleichen zu können, fast immer ohne Leine laufen, dürfen sie keine Passanten anbellen, niemandem Angst einjagen und mit anderen Hunden keinen Streit anfangen. Schäferhunde sind „völlig ungeeignet“, weiß die Hunde-Ausbilderin, die neigten zu „Angstbeißereien“, und ihre „Schutzhundeigenschaften“ seien von Züchtern zu stark entwickelt worden. „Rollstuhlbegleiter sind aber keine Schutzhunde, sondern Partner.“ Beste Erfahrungen habe man mit Retrievern und Labradors gemacht.

„Fast mehr als der Hund muß aber der Besitzer ausgebildet werden“, weiß Frau Frank-Barthel aus langer Erfahrung. Behinderte stoßen da an Grenzen. Ihre Sprache ist oft unverständlich und die Behinderung, um einen Hund zu erziehen, zu stark. Der 1991 gegründete Verein will sich deshalb deutschlandweit ausdehnen und sich für eine „zentrale Fremdausbildung“ nach dem Vorbild von Blindenhundvereinen engagieren. Dafür sind aber noch viele Schwierigkeiten zu überwinden. Ein fremdausgebildeter, zwei Jahre alter Hund kostet um 25.000 Mark. Zuschüsse gibt es dafür nirgends. Deutschland ist das einzige westeuropäische Land, das „Begleithunde“ nicht anerkennt. Die rechtliche Gleichstellung mit Blindenhunden und damit Finanzierungszuschüsse lehnte 1991 der Petitionsausschuß der Bundestages ab. „Hunde erleichtern nicht die Behinderung“, heißt es in der Begründung.

Das sehen die Betroffenen aber anders. „Sie ersetzen keine Augen“, sagt Heide Frank-Barthel, „aber sie übernehmen Hilfsdienste und haben eine unschätzbar wichtige therapeutische Wirkung, vor allem für Kinder.“ In den USA sei dies schon lange bekannt. „Nach meinem ersten MS-Schub 1982 fiel ich in ein abgrundtiefes Loch und fühlte mich überflüssig“, sagt die ehemalige Krankenschwester. „Jetzt habe ich eine Aufgabe, einen Tagesrhythmus und vor allem viele neue Bekannte.“ Denn „normale“ Nichtbehinderte zeigten Scheu gegenüber behinderten Menschen. Hundebesitzer dagegen hätten immer was miteinander zu bereden. Anita Kugler

Verein für Behinderten-Begleithunde: Tel. 325 69 80

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