„Wir müssen stärker für ein Umdenken werben“

Walter Riester, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, zu Massenarbeitslosigkeit, Strukturkrise und gesellschaftlichem Modernisierungsbedarf  ■ Von Erwin Single

taz: Wir haben in Deutschland inzwischen vier Millionen Arbeitslose, in Westeuropa werden es Ende des Jahres sogar 20 Millionen sein. Geht der Arbeitsgesellschaft endgültig die Arbeit aus?

Walter Riester: Mit Sicherheit nicht, weil wir ungeheuer viele Bedürfnisse haben – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Bedürfnisse nach Produkten, nach Dienstleistungen, nach einer Infrastruktur, die die vorhandenen Ressourcen schont und den Menschen das Leben menschenwürdiger, erträglicher und auch angenehmer macht. Wenn man etwa an den Umweltschutz, das Recycling, an Dienstleistungen im Pflegebereich oder Weiterbildung und Qualifizierung denkt, gibt es eine Fülle von Aufgaben. Aber es gibt für diese individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse noch keinen kaufkräftigen Markt. Die öffentlichen Haushalte sind in einem Maße strapaziert, daß für diese gesellschaftlichen Bedürfnisse die notwendigen Mittel fehlen.

Und weil die maßgeblichen Kräfte auf neue Bedürfnisse stets mit altem Denken und bewährten Rezepten antworten.

Natürlich müssen wir zu einer neuen Verteilung, zu einem neuen Konsens über qualitative Werte der Gesellschaft kommen. Wir müssen stärker für ein Umdenken werben und eintreten – und zwar, was produziert werden soll und wie es produziert werden soll, welche Dienstleistungen erforderlich und welche überflüssig sind.

Die materiellen Bedürfnisse sind weitgehend gesättigt, in der Güterproduktion erleben wir eine Überflußwirtschaft. Im Westen sind doch die Zeiten der großen Wachstumsraten endgültig vorbei.

Das ist in erster Linie ein strukturelles Problem, das in der Wirtschaftsordnung selbst begraben liegt. Die Industrie hat über Jahre hinweg bei bestimmten Produkten gigantische Überkapazitäten aufbaut, die sie dann schlagartig wieder niederreißt. Es ist aber auch ein konjunkturelles Problem. Das Fatale dabei ist, daß sich beide Elemente verschränken.

Selbst wenn die Konjunktur wieder in Schwung kommt, wird es doch nur ein „jobless growth“ geben. Und neue Produkte und Dienstleistungen, sagen die Wirtschaftsforscher, werden den derzeit stattfindenden Arbeitsplatzabbau in nächster Zukunft nicht einmal annähernd kompensieren können.

Das ist doch eine Frage des politischen Handelns. Es wäre falsch, und das sage ich ganz bewußt als Gewerkschafter, die Produktivitätsfortschritte dort, wo die Wertschöpfung durch eine schlankere Produktion gesteigert werden kann, einfach zu behindern. Angesichts der gesellschaftlichen Bedürfnisse müssen aber politische Entscheidungen getroffen werden. Einige Politiker wehren sich aber furchtbar gegen eine Industriepolitik. Das ist albern. Auch in der Vergangenheit sind industriepolitische Entscheidungen gelaufen – nur eben oft die falschen.

Da werden Milliardensubventionen von Politikern als Sozialpolitik verkauft und die Leichenzüge der Altindustrien, wie Lothar Späth sagt, vor dem Friedhof hin- und herbewegt, weil sich niemand traut, die Grablegung einzuleiten.

Einverstanden. Man hat Strukturen mit Subventionen viel zu lange am Leben gehalten. Aber nicht nur das: Nehmen wir die Energiepolitik. Die Solarenergie hat noch einen langen Entwicklungsprozeß vor sich. Aber warum? Doch weil die vorhandenen Ressourcen in andere Zweige, vor allem in die Atomenergie gesteckt wurden. Hätte man auf Solarenergie gesetzt, wären wir heute um Meilen weiter. Das sind doch industriepolitische Entscheidungen.

Lothar Späth selbst hat als Ministerpräsident die Strukturen Baden-Württembergs immer vehement verteidigt und den Aufbau von Überkapazitäten im Fahrzeugbau nie problematisiert. Das ist doch nichts anderes als Strukturkonservatismus. Als wir 1988 mit einer Studie auf die Monostruktur hingewiesen und einen massiven Arbeitsplatzabbau in der Autoindustrie prognostiziert haben, hieß es, wir würden den Teufel an die Wand malen. Das Spannende wäre doch gewesen, diesen Impuls als einen Auftakt einer gesellschaftlichen Diskussion über den Veränderungs- und Modernisierungsbedarf zu nehmen. Und das in einer Zeit, wo man noch die Stärke besaß, vielleicht etwas in Gang zu bringen. Heute ist es überhaupt keine Frage mehr, daß sich etwas ändern muß, aber die Umstrukturierung verläuft unter akutem Druck und zeitlicher Hektik. Daß der Veränderungsprozeß viel zu spät einsetzte und zu langsam verläuft, darüber kann man sich sogar mit dem aufgeklärten Management verständigen. In Zeiten des wirtschaftlichen Erfolgs aber gab es leider kaum Bestrebungen, etwas zu ändern.

Der Umbruch in der Wertschöpfungskette wird noch Millionen von Jobs kosten. Allein mit Kostenmanagement sind Strukturprobleme aber nicht zu lösen. Braucht es nicht mehr neue Produkte mit hoher Wertschöpfung?

Das ist mir zu platt. Damit wird doch zu sehr der Gedanke von High-Tech verbunden. Die Wertschöpfung kann aber auch bei einfachen Produkten hoch sein, wenn die Produktion intelligent organisiert ist. Die zentrale Frage aber ist doch die des gesellschaftlichen Bedarfs nach neuen Produkten und Dienstleistungen, für die es aber noch keinen Markt gibt. Kann man Übergänge finden, diesen Markt zu stimulieren und ihn möglicherweise mit Subventionen unterstützen, bis er sich entwickelt hat?

Ich könnte immer lachen, wenn die Manager sagen, jetzt hören wir mal genau auf den Markt, was der Kunde will. Ja tun sie das denn wirklich? Natürlich nicht! Wir haben beispielsweise einen großen Bedarf an Mobilität – das kann man sich nun politisch wünschen oder nicht. Dieser wird aber vor allem über den Individualverkehr gedeckt und nicht etwa durch umweltschonende, intelligente und preisgünstige Verkehrssysteme, die miteinander kombiniert werden könnten. Hier tut sich fast nichts. Ich muß immer an den klassischen Satz des früheren BMW- Chefs Kuenheim denken, der einmal erklärte, natürlich gebe es weltweit Überkapazitäten in der Automobilindustrie, aber zu wenig verkaufte BMWs. So denkt Mercedes, so denkt Audi, so denkt VW, so denkt Opel...

...und kämpfen gegeneinander, Stuttgart gegen Ingolstadt und Wolfsburg gegen Regensburg.

So schaut es dann aus: die Deutschen gegen die Franzosen und die Japaner gegen die USA. Am Ende ist immer die Gesellschaft der Verlierer und die Menschen, die in ihr leben.

Brauchen wir einen Beschäftigungspakt, wie ihn die Sozialdemokraten fordern?

Ein Beschäftigungspakt kann nicht nur von der Frage der Beschäftigung ausgehen. Beschäftigung ist natürlich ein wichtiger Gesichtspunkt und sicherlich auch derjenige, den die Gewerkschaften vorrangig vertreten. Aber man muß sich doch erst einmal fragen: Beschäftigung für was? Für welche Produkte, für welche Dienstleistungen? Nur wenn sich beides verbindet und darüber hinaus in einem demokratischen und gesellschaftlichen Prozeß die Rahmenbedingungen hergestellt werden, haben wir hier Chancen. Ein isoliertes Herangehen ist zum Scheitern verurteilt.

Wer soll einen solchen Beschäftigungspakt denn bezahlen? Verlangt nicht die horrende Staatsverschuldung, daß die Staatsausgaben heruntergefahren werden?

Ich weiß nicht, ob diese These richtig ist. Die vorhin angesprochenen neuen Märkte ergeben sich eben nicht von selbst, deshalb ist der Staat hier noch mehr gefordert als in der Vergangenheit. Dafür wird er auch finanzielle Mittel brauchen. Außerdem muß man sich stärker überlegen, für was man die vorhandenen Mittel einsetzen will. Einerseits steigen die Belastungen in den Massenhaushalten, andererseits werden Spitzenverdiener und Unternehmen steuerlich entlastet. Das ist doch eine Gespensterdiskussion. Bosch etwa muß im kommenden Geschäftsjahr überhaupt keine Steuern bezahlen, das Unternehmen bekommt sogar noch eine Rückerstattung.

Nun reden bereits angesichts der tiefen Rezession und sinkenden Staatsausgaben nicht wenige Politiker und Wirtschaftsforscher von der Gefahr einer Brüning-Spirale.

Ich bin sofort dabei, wenn es darum geht, sich über den Einsatz der staatlichen Mittel kritisch zu unterhalten. Aber generell ist doch die Aufgabenstellung für die Politik, auf Prozesse einzuwirken, Entwicklungen zu unterstützen, Rahmenbedingungen herzustellen, Brücken zu schlagen. Der Staat ist doch hier in viel stärkerem Maße gefordert als in Zeiten der Hochkonjunktur. Das gilt auch für die Sozialpolitik. Sie ist ein Instrument, das sich gerade in der Krise bewähren muß. Doch statt dessen werden Leistungen in einem Maße abgebaut, wie ich es für unvertretbar halte.

Nun schwebt ja nicht nur Wirtschaftsminister Rexrodt vor, die Krise mit dem einfachen Rezept der Lohnsenkung zu kurieren.

Jede Krise birgt eine Chance, nämlich die einer Korrektur, einer positiven Veränderung, einer produktiven Erneuerung. Nur, das ist mit dem Zurückfahren des Lohnniveaus keineswegs zu erreichen. Abgesehen davon werden sich die Gewerkschaften dagegen zu wehren wissen. Ein Teil der Bevölkerung soll den Gürtel enger schnallen, damit im eigenen Lager der Änderungsbedarf nicht zu groß wird. Man macht im alten Denken weiter und läßt sich diese Verkrustung noch vom Großteil der Bevölkerung durch Lohnverzicht subventionieren. Rexrodt ist der Meinung, die Politik soll sich aus der Wirtschaft heraushalten – ja, um alles in der Welt, wenn ein Zeitpunkt gekommen ist, wo die Politik eingreifen muß, dann doch wohl jetzt!

Es wird aber dennoch nicht gelingen, den Wohlstand aller Bürger zu verteidigen. Muß nicht jetzt auf einen Teil verzichtet werden?

Beim Verzicht auf materiellen Wohlstand gebe ich Ihnen Recht. Wenn sich der Verzicht aber am Lebensglück, an Chancen der Selbstverwirklichung, am Wohlstand nicht nur an materiellen Gütern festmacht, sehe ich es anders. Es muß nicht Verzicht an sich bedeuten, wenn man aus den alten Gleisen herausspringt und neue Werte als Maßstab setzt.

Aber auch den Gewerkschaften wird vorgeworfen, Strukturen lieber zu konservieren, als die notwendige Beweglichkeit zu zeigen.

Ich bilde mir zumindest ein, daß ich die Fragen breiter thematisiere. Erst wenn ich meine Arbeit in einen gesellschaftlichen Gesamtrahmen setze, werden die vorhin angesprochenen Dinge transparent. Insofern kann ich nur ein Stück weit an alle Gewerkschafter, die Verantwortung tragen, appellieren, sich aus diesen Grenzen herauszulösen. Die neuen, großen Gesellschaftsentwürfe, die manche gerne hätten, nachdem ihnen der Sozialismus abhanden gekommen ist, gibt es nicht. Ich wehre mich auch ein Stück weit dagegen, weil manche die Notwendigkeit, jetzt zu handeln, lieber noch vertagen würden, bis sie wissen, wo es hingehen soll. In der Frage der Arbeitszeitverteilung konnten wir in den letzten Wochen viel ideologischen Ballast auf die Seite schieben. Sie ist ein notwendiges Instrument, um zu einem gerechteren System von Arbeit, Leistung und Beschäftigung zu kommen. Wir hatten ja die abstruse Situation, daß wir ausgerechnet in der Zeit der höchsten Arbeitslosigkeit mit den Vorstößen Kohls und Rexrodts die größte Renaissance der Arbeitszeitverlängerung erlebten.

Die Viertagewoche ist ein Anfang, ein Allheilmittel ist sie nicht. Wo liegt für die Gewerkschaften die Schmerzgrenze?

VW hat die Wochenarbeitszeit quasi über Nacht zum 1.Januar um 7,2 Stunden reduziert. Die letzte Arbeitszeitverkürzung von der 40- auf die 36-Stundenwoche wurde in einem Prozeß von 1985 bis jetzt vollzogen. Daß diese radikale Umverteilung nicht bei gleichem Entgelt erfolgen kann, das ist wohl klar. Wir haben versucht, zunächst einmal die Monatseinkommen stabil zu halten, was uns zu Lasten des Jahreseinkommens gelungen ist.

Bei niedrigeren Einkommen ist das nicht so einfach zu machen.

Wir kennen das Problem. Eine Gewerkschaft, die sich in ihrem demokratischen Verständnis ernst nimmt, die kann nicht den Menschen abstrakte Schritte aufzwingen. Sie muß die Situation der Beschäftigten berücksichtigen. Wenn ich den Eindruck hätte, daß 30 oder 40 Prozent bei Volkswagen nicht mitgehen können, dann verbietet es sich für die Gewerkschaft, diesen Schritt der Arbeitszeitverkürzung zu machen, mag er abstrakt noch so richtig sein. Denn sonst käme sie unter die Räder. So gesehen ist VW ein Sonderfall, weil es hier vom Gehaltsvolumen wie vom tariflichen Rahmen her Möglichkeiten gab. Die VW-Lösung ist aber auch kein Sonderfall, weil der Weg tendenziell richtig ist. Ich fände es schon gut, wenn wir in der Tarifrunde die 35-Stundenwoche vorziehen könnten – eine Stunde, die aber sehr viele Arbeitsplätze für eine bestimmte Zeit absichern würde. Wir sind auch bereit, uns die materiellen Kosten anrechnen zu lassen.

Muß nicht noch über andere Formen der Arbeitsverteilung nachgedacht werden?

Eine Chance sehe ich darin, die jetzt aufkeimende Diskussion um den zweiten Arbeitsmarkt ein wenig von der Bezahlungsfrage zu trennen, wenngleich diese sehr wichtig ist. Gerade Gewerkschaften sind unter den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Tarifautonomie und Flächentarifverträge unter ständigem Sperrfeuer stehen, besonders sensibel, wenn die Bezahlung gegenüber der Beschäftigung hintenan gestellt werden soll. Das Wesentliche ist aber: Was soll denn in diesem zweiten Arbeitsmarkt überhaupt gemacht werden? Das kann sich meines Erachtens nach nur an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientieren. Die nächste Frage wird sein: Wie kann der zweite Arbeitsmarkt so organisiert werden, daß sich Produktion und Dienstleistungen so professionalisieren, daß sie als gleichwertige Leistungen Eingang in den Wirtschaftsprozeß finden. Der Wunsch Rexrodts, in diesem Bereich so unattraktive Löhne zu bezahlen, daß der Anreiz bleibt, in den ersten Arbeitsmarkt überzuwechseln, ist fatal. Wir müssen gerade das Gegenteil erreichen.

Es klingt ja einleuchtend, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu subventionieren. Aber werden dadurch nicht Wettbewerbsbedingungen verzerrt und andere Anbieter samt Beschäftigten verdrängt?

So kann man diskutieren, aber am Ende wird man als Verlierer dastehen. Der Begriff „zweiter Arbeitsmarkt“ ist denkbar schlecht, es handelt sich ja um Arbeit, die öffentlich unterstützt werden soll. Hier können doch gerade die unmittelbaren Bedürfnisse, die der traditionelle Produktions- und Dienstleistungsbereich nicht abdeckt, mit qualitativ hochwertigen Leistungen angepackt werden. Hier muß man seine eigenen Vorstellungen einbringen. Die Alternative wäre, daß wir demnächst fünf, sechs, sieben Millionen Arbeitslose haben. Diese Konsequenz kann doch eine Gewerkschaft nicht akzeptieren.

Haben sich die Gewerkschaften nicht zu sehr um die noch Beschäftigten und zu wenig um die Arbeitslosigkeit gekümmert?

Da setze ich folgendes dagegen: Gegen alle Widrigkeiten hat die IG Metall seit 1983 den Weg der Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt. Dabei hatten wir nicht so viele Freunde auf unserer Seite. Und wir haben den Beschäftigten in diesem Prozeß einiges abverlangt. Wären wir den traditionellen Weg gegangen, läge das Lohnniveau heute um mindestens zehn Prozent höher. Die Arbeitszeitverkürzung war ein enormer Beitrag zur Beschäftigungssicherung. Aber auch wir stehen an Grenzen. Nehmen wir die Tarifpolitik, die von den Konservativen als Ursache für die Krise vereinnahmt wird. Das ist völlig albern. Die Illusion mancher Linken, Tarifpolitik könne sozusagen das Wirtschaftssystem wieder auf den Pfad der Tugend bringen, ist genauso falsch. Tarifpolitik hat beschränkte Möglichkeiten, und die haben wir exzessiv ausgeschöpft.