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■ StandpunktIm Dienste der Allgemeinheit

Wäre es einem Regisseur eingefallen, hätte er rasch als anrüchig gegolten: Eine Leiche wird auf einem Autositz angeschnallt; ferngesteuert und mit hoher Geschwindigkeit rast der Wagen gezielt gegen eine Mauer. Doch es ist kein platter Film, dem diese Szene entstammt. Die Crashtests mit Leichen laufen seit Anfang der siebziger Jahre unter dem Etikett wissenschaftlicher Forschung bei den Rechtsmedizinern an den Universitätskliniken in Heidelberg und Hannover.

Während derzeit in Deutschland darüber diskutiert wird, wie zukünftig Organspenden geregelt werden sollen, wurde aus Heidelberg und Hannover bekannt, daß dort Tote seit langem sozusagen als „Ganzkörperspenden“ für die Unfallforschung genutzt werden. Obgleich die Versuche in der veröffentlichten Meinung nahezu einhellig mit Entsetzen aufgenommen wurden, möchten die beteiligten Forscher sie nach wie vor als Sicherheitsforschung „im Dienste der Allgemeinheit“ verstanden wissen. Die teuren, mit Elektronik vollgestopften Dummy-Puppen, die normalerweise bei derartigen Tests gegen die Wände krachen, bräuchten eben hin und wieder den Vergleichstest, erklärt der Heidelberger Institutsleiter Rainer Mattern völlig verständnislos ob der Kritik.

Gut ein Jahr ist es her, da erschütterte ein anderes „Fortschrittsexperiment“ die bundesdeutsche Öffentlichkeit. In Erlangen durfte eine nach einem Autounfall für hirntot und damit juristisch als Leiche erklärte schwangere Frau nicht in Würde sterben, weil Forscher ihren Embryo zur Welt bringen wollten. Vollgepumpt mit Medikamenten und angeschlossen an alle erdenklichen Apparate war der Körper von Marion P. bis zu einer Fehlgeburt Objekt wissenschaftlicher Begierde. Was beide Experimente miteinander verbindet, ist nicht nur der mörderische Autoverkehr. In beiden Fällen überschritten die Forscher eine imaginäre Grenze in unserer Gesellschaft. Sie brachen das Tabu, nach dem die Menschenwürde für die Lebenden und die Toten gilt. Der herrschende Fortschrittsbegriff ist eben keine qualitative, sondern eine ökonomisch-technische Größe.

Dennoch ist es erstaunlich, daß knapp 50 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe viele der heutigen Wissenschaftler erwarten, daß die Ethik sich der Technik anpaßt. Die alleinige Grenze dabei scheint die des Marktes zu sein. Da ist es nur logisch, wenn auch der menschliche Körper zunehmend verfügbar und zum Rohmaterial für die industrielle Verwertung wird. Wo menschliche Eier künstlich befruchtet werden, um sie zu klonen, wo es an der Tagesordnung ist, daß Menschen aus den Armutszonen selbst als solche lebenden Ersatzteillager genutzt werden oder daß Frauen als Eispenderinnen und Leihmütter fungieren, wo Fötalgewebe aus Abtreibungen verpflanzt wird, wo Angebote zur Gentherapie die Illusion verbreiten, allem Leiden ausweichen zu können, da soll auch der Tod nicht ungenutzt bleiben. Schon haben die Kirchen in Deutschland den Hirntod – Voraussetzung für frische Transplantationsorgane – als Kriterium für den Tod des Menschen akzeptiert. Schon reden Transplantationsmediziner von einem „Recht“ auf Organverpflanzung.

So muten also die Heidelberger Crashtests mit Toten nur auf den ersten Blick makaber an. Tatsächlich aber sind sie keine Ungeheuer, diese fortschreitenden Wissenschaftler. Es sind zum Teil ganz normale Familienväter, wie etwa der Leiter der Heidelberger Versuche. Finanziell und rechtlich abgesichert durch Industrie und Politik drängen sie die Gesellschaft zu ihrer Vorstellung von Fortschritt: tabulos, grenzenlos, bedenkenlos. Aber ebensowenig wie die Ethik sich dem technisch Machbaren zu unterwerfen hat, ist die Richtung dieses Fortschritts eine zwangsläufige. Ute Sprenger

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