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Neue Welten

■ Im Zeichen Osteuropas gewinnt die Kunstmesse Art Hamburg an Gewicht

Von Jesus und Maria, halbiert im blauen Aquarium zum Sowjetpanzer, vom Bruderkuß zum Gläsernen Sarg der Avantgarde: Die Invasion ist gelungen, Hamburg steht ganz und gar im Zeichen der Kunst aus Osteuropa. Mit der konsequenten Beschränkung auf dieses Thema durch den Kölner Rudolf Zwirner hat die bisher unnötige Art-Hamburg dieses Jahr ihre konkurrenzlose Existensberechtigung gefunden. 50 programmatisch ausgewählte Galerien und Kulturinstitute, aus den ehemaligen Ostblock-Ländern oder aus dem Westen mit Schwerpunkt Ostkunst, helfen erstmals in dieser Konzentration die Informationsdefizite abzubauen.

Es sind vor allem aberwitzige bürokratische Schwierigkeiten und knappe finanzielle Mittel, die den Kunstaustausch mit der anderen Hälfte Europas erschweren - die Sprache der künstlerischen Mittel ist bei weitem nicht so fremd, wie es die räumliche Distanz erwarten läßt. Nachklänge des russisch-orthodoxen Glanzes oder des sozialistischen Realismus sind vorhanden, aber die Breite des Ausdrucksspektrums läßt die Definition einer speziellen „Ostkunst“ nicht mehr zu. Die Messe ist als musealer Überblick zu nutzen: Mit Chagall, Malewitsch, Rodtschenko und den Suprematisten wird die bahnbrechende Wirkung der einstigen Revolutionskunst in Erinnerung gerufen, mit der Sammlung Bar-Gera, die von Breschniew unter Bulldozern begrabene „zweite russische Avantgarde“ der 60er und 70er Jahre gezeigt. Plakate und die Exponate der Fotogalerien sorgen für die Dokumentaion der glorreichen Sowjetunion, im übrigen dominiert die aktuelle Kunst.

„Wie möchten Sie, daß das neue Rußland aussieht?“ fragt eine Bildtafel und gibt die Antworten vor „a: Amerika, b: Deutschland, c: Japan, d: Rußland“. Die künstlerischen Problemstellungen sind jedenfalls international, die blutigen Spritzen auf dem Stand der ersten Moskauer Privatgalerie Guelmann sind auch ohne Übersetzung des russischen Textes verstehbar. Fast überall stellt sich ein starker sozialer Bezug her: Ein Stückchen blauer Himmel hinter einer Marmorwand wird zum Hoffnungsaufbruch, „McLenin“ als ikonographische Überlagerung in der poppigen „Sots-Art“ von Alexander Kosolapov zum Hinweis auf die Austauschbarkeit von Machtansprüchen, eine Kritik an den Systemen, die auch dann bestehen bleibt, wenn Künstler wie das Duo Komar und Melamid in die USA übersiedeln. Politische Umbrüche fördern auch in der Kunst die Uminterpretationen. Tiger in der Galerie und Besucher im Käfig sind dabei von der Moskauer Galerie Regina, ausprobierte Extremformen neuer Präsentation. Oft werden die alten Propagandatechniken in ironischer Brechung aufgearbeitet, die Gruppe Medizinische Hermeneutik erfindet zu Kunstgeschichte und Alltag völlig neue analytisch-märchenhafte Texte. Angesichts immer neuer Staatengründungen im ehemaligen Ostblock erfinden Die Martinchiks, ein junges Ehepaar aus Odessa, mit ethnologischer Akribie eine eigene Zivilisation namens Ho, die ihrerseits das fremde „Volk von Abbaja“ wissenschaftlich dokumentiert, eine ziemlich überraschende Entdeckung der New Yorker Galerie Ronald Feldmann.

Hajo Schiff

bis 12.Dezember, 11-19 Uhr, Eingang Ost

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