piwik no script img

Lenin warnt an der Wand

Deutsche Unternehmensberater wollen im russischen Wladimir Schlüsselindustrien erhalten. Aufträge sind da, Investoren warten noch  ■ Aus Wladimir Donata Riedel

Was sind schon 70 Jahre Planwirtschaft? „Unsere Stadt ist über tausend Jahre alt. Wladimir war russische Hauptstadt, als Moskau noch ein Dorf in den Wäldern war.“ Nikolai Mitjakow, kaufmännischer Direktor des Maschinenbau-Unternehmens „Technika“, liebt die historische Dimension. Darin schrumpft sein Problem auf eine überschaubare Größe: Mitjakow muß die Kosten des einstigen Rüstungsbetriebes mit den Einnahmen von heute in ein gewinnbringendes Verhältnis setzen. Doch von schwarzen Zahlen ist Technika noch weit entfernt.

Die Stadt Wladimir, 190 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegen, und das umliegende Gebiet von der Größe Brandenburgs sind seit der Stalinzeit Industrieregion. Der Industriegürtel bildet einen eigentümlichen Kontrast zum historischen Stadtkern mit seinen zahlreichen goldenen Zwiebeltürmen und Kuppeln, die über der verschneiten Stadt in der Dezembersonne glänzen. 1,7 Millionen Menschen leben heute in der Region, 370.000 Menschen in Wladimir selbst, aber die Haupteinkaufsstraße – sie heißt „Straße der 3. Internationale“ – ist dörflich geblieben.

Alte Stadt mit alter Rüstungsindustrie

Menschen in Stiefeln, dicken Mänteln und Pelzmützen stapfen durch den Schnee. In den Gründerzeithäusern verstecken sich die kleinen, zu 80 Prozent bereits privatisierten Geschäfte hinter dreifachen Türen vor der Winterkälte. Alles ist zu kaufen. Aber die Laufkundschaft schaut nur herein und vergleicht die Preise. Am Einkommen gemessen sind sie hoch.

Neben St. Petersburg, der sibirischen Stadt Tjumen und dem Gebiet um Moskau hat die Bundesregierung das Gebiet Wladimir zur Schwerpunktregion für ihre Wirtschaftshilfe gewählt. Als Schlüsselbetriebe sollen zunächst die Konversions-Kombinate „Elektropribor“ und die Technika marktreif gemacht werden. Zusätzlich zu den Beratern der Deutsche-Bank- Tochter Roland Berger bemüht sich Wolfgang Kartte, pensionierter Bundeskartellamtschef und heute im Auftrag der Bundesregierung Berater der russischen Regierung, deutsche Mittelständler mit russischen Unternehmern in Kontakt zu bringen.

Bei der historischen Dimension schummeln die Einwohner Wladimirs übrigens ein wenig: Ganz offiziell hat sich die Stadt nach dem Ende der UdSSR der orthodoxen Kirchen-Meinung angeschlossen, wonach Wladimir 990 gegründet wurde. Eigentlich aber galt 1108 als Gründungsjahr, als sich Fürst Wladimir Monomach aus Kiew am Fluß Kljasma niederließ. Die Blütezeit Wladimirs sollte außerdem nicht lange dauern. 1238 brannten tatarische Eroberer die Stadt nieder, die danach zwar noch zweihundert Jahre Rußlands Hauptstadt blieb, aber als Regierungssitz bedeutungslos wurde.

Für Wirtschaftsreformen, aber mit Lenin im Kreuz

Viktor Aljakrinskij mag sich darum nicht lange bei der fernen Vergangenheit aufhalten. Der Generaldirektor von Technika hat das Leninbild in seinem geräumigen Büro nicht abgehängt – als ständige Mahnung, was man falsch machen kann. Am Fenster, vor dem die Schneeflocken wirbeln, trägt ein großer Zitronenbaum überdimensionale Früchte. Aljakrinskij zählt zur Minderheit der politisch Aktiven und stellt sich am Sonntag für den Föderationsrat der Duma zur Wahl. Er kandidiert zwar auf der Liste des Wirtschaftsreformers Jegor Gaidar, will die Verfassung aber dennoch ablehnen. „Das Land braucht mehr Demokratie. Außerdem kann ich keine Verfassung unterschreiben, die bei den Menschenrechten hinter den Verträgen von Helsinki zurückbleibt“, begründet der 45jährige seine Ablehnung des Jelzin- Entwurfs. Schließlich habe ja sogar die UdSSR-Regierung die Helsinki-Akte unterschrieben.

Unter den schwierigen Rahmenbedingungen, die bislang deutsche Unternehmer von Investitionen zurückgehalten haben, leiden auch und vor allem die russischen Betriebe. Denn wie, fragt Aljakrinskij, soll ein Betrieb seine Kosten kalkulieren, wenn die Steuergesetze täglich geändert werden? Und wie überhaupt die Produktion aufrechterhalten, wenn Betriebsmittelkredite der russischen Banken mit ihren 210 Prozent Jahreszinsen schlicht unbezahlbar sind?

Aljakrinskij zieht die neuesten Kurven der Industrieproduktion im Gebiet Wladimir aus der Aktentasche. Seit 1992 zeigen sie nur in eine Richtung: steil bergab. In den vergangenen zwei Jahren knickte die Industrieproduktion um 40 Prozent ein, eine Wende ist nicht in Sicht. „Im schlimmsten Fall droht der russischen Wirtschaft zum Jahreswechsel der komplette Stillstand.“ Ursache seien die von den Sowjets planmäßig errichteten Monopole, die Alleinanbieter vieler Vorprodukte sind. Sobald nur ein Zulieferbetrieb bankrott geht, „zieht er die ganze Kette mit.“

Für das Gebiet Wladimir sind die deutschen Wirtschaftsberater trotzdem vorsichtig optimistisch. Im April hat Roland Berger im Auftrag der Treuhand-Osteuropa- Beratungsgesellschaft eine Industriestrukturstudie erstellt. Wladimirs größter Vorteil: Das Gebiet ist nicht von einer einzigen Branche abhängig. Die 450.000 Industrie-Arbeitsplätze verteilen sich auf Maschinen- und Fahrzeugbau (29 Prozent), Bau (17 Prozent), Textil- und Elektroindustrie (je 16 Prozent), Glas (6 Prozent). Außerdem gibt es Chemie-, Lebensmittelverarbeitungs- und Metallbetriebe sowie die Holzwirtschaft.

Die Schwierigkeiten haben auch das Management von Technika keinesfalls resignieren lassen. Einst produzierte das Kombinat seine Werkzeugmaschinen für die Luft- und Raumfahrttechnik zu 83 Prozent für das Militär. Der Plan wurde abgearbeitet, das notwendige Geld zur Verfügung gestellt. Anfang 1992 wurde Technika der Geldhahn, bis auf einen „kleinen Konversionskredit“ (Aljakrinskij), zugedreht. Heute bereits hat Technika, weil auch vom Luft- und Raumfahrtministerium keine Aufträge mehr kommen, die Produktion auf zivile Güter umgestellt und produziert nur noch Waren, für die es Kunden gibt.

In den zwei großen Hallen ist es jedoch leer geworden. Lange nicht an allen Werkbänken feilen, schrauben und bohren Gruppen von Arbeitern. In einer Ecke entstehen Motorblöcke, in einer anderen universelle Fräs- und Drehmaschinen, für die Aufträge aus Rußland, Ungarn und einen aus den USA vorliegen. Technikas Roland-Berger-Berater Detlef Roth sagt, daß außerdem ein Auftrag für Drehmaschinen von einem westdeutschen Unternehmen fast unterschriftsreif sei.

In einem Nachbarraum werden Plastikpreßmaschinen geprüft, ob sie auch wirklich brauchbare Blumenkästen liefern. „Hier hat sich schon viel getan“, erzählt der 53jährige Roth, der seit März regelmäßig nach Wladimir fährt. Die Maschinen werden nun ständig verbessert, auch wenn sie im Prinzip schon vorher irgendwie funktionierten. Und in den Hallen herrscht deutsche Sauberkeit: kein Schnipsel Papier liegt herum, keine Metallspäne, und auch das Öl wird aufgefangen.

Nur für zivile Güter gibt es noch Kunden

Die heutigen Aufträge aber erreichen gerade mal 60 Prozent des früheren Volumens. Und nur noch 2.300 statt 3.300 Menschen sind bei Technika beschäftigt. „Leider sind vor allem die Qualifiziertesten gegangen, weil sie anderswo mehr verdienen können“, bedauert der Prouktionsleiter Wladimir Lubschin. Manchen wurden die Löhne verdoppelt, um sie halten zu können. Wie viele schon im ständig wachsenden privaten Handelssektor gutes Geld verdienen, weiß in Rußland sowieso niemand, auch Lubschin nicht: die Statistiken fehlen. Den Traum vom Westinvestor, der die Phase des Übergangs erträglich macht, träumt heute auch in Wladimir niemand mehr. „Deutsche Investitionen gibt es bisher nicht“, bedauert Nikolai Dimitrijew, Vizechef der Wirtschaftsabteilung der Gebietsverwaltung, die im Weißen Haus auf einer Art Feldherrenhügel über der Stadt thront. Dennoch ist er froh über die Unternehmerreisen, die Wolfgang Kartte im Juni und September nach Wladimir organisiert hat. Immerhin kamen so mehr als 100 Mittelständler hierher. Auf eigene Faust hätte die Reise vermutlich niemand unternommen. 20 bis 30 von ihnen haben weiteres Interesse bekundet. Und wenn schon keine Investitionen, so bleiben doch einige Fertigungsaufträge hängen, die Elektropribor und Technika das Überwintern während der schwierigsten Phase des Wirtschaftsumbaus erleichtern könnten. Später wollen die Manager natürlich wieder, wie zu Hochrüstungszeiten, High-Tech-Geräte herstellen können.

So berichtet Henric August, Direktor von Elektropribor, deren Rüstungsanteil von 95 auf 20 Prozent gefallen ist, von einem Zulieferauftrag für eine Rundfunkgeräte-Firma – die Produktionstechnik wollen die deutschen Partner verleasen. Außerdem fertigen die Elektropribor-Arbeiter Holz- und Metallregale, die der Erlanger Unternehmer Fredy Hartleb an deutsche Baumärkte verkaufen will. „Die Tschechen und Ungarn sind doch heute schon viel zu teuer, und Ostdeutschland sowieso“, begründet Hartleb sein Rußlandinteresse. „Aber bei den Transportkosten müssen auch die Russen noch billiger werden.“

Für die Textilindustrie erwartet Wadim Jegorow, im Weißen Haus Abteilungsleiter für Internationale Beziehungen, weitere Aufträge im Bereich der sogenannten Lohnveredelung: ein ausländischer Unternehmer läßt seine Stoffe im Billiglohnland Rußland verarbeiten und führt sie anschließend wieder aus.

Industriestrukturen sichern wollen die deutschen Berater auch bei der Glasindustrie, für die Roland Berger jetzt eine Sektorstudie erstellen soll. Immerhin stammten im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion 70 bis 80 Prozent aller Glaserzeugnisse, von Glasfasern über Fensterscheiben bis zu Weingläsern, aus dem Wladimirer Gebiet. Und möglicherweise wirken bald schon die Ergebnisse von 70 Jahren Planwirtschaft weniger erschreckend auf deutsche Unternehmer als bisher: Die ersten Aufträge zur Verbesserung der Telekommunikationsstruktur sind jetzt ausgeschrieben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen