: Studis wehren sich gegen Deformation
Mit Vorlesungsboykotts, alternativen Lehrveranstaltungen, symbolischen Besetzungen und Demonstrationen protestieren Studierende im Rahmen einer Aktionswoche gegen ihre Nicht- beteiligung an den geplanten Hochschulreformen.
Einen „Notschrei“ gegen das „Bildungssparen“ stießen gestern Mitarbeiter und Studenten der Berliner Universitäten aus. Über 10.000 TeilnehmerInnen zogen in einer Demo zum Brandenburger Tor. „Einsparungen in der Bildung schaden uns allen!“ rief die Präsidentin der Humboldt-Universität, Marlis Dürkop. Ihr Kollege von der TU, Dieter Schumann, befürchtet sogar einen Zusammenbruch der Lehre. Die Etats der Berliner Unis sinken 1994 in zweistelliger Millionenhöhe.
Auch im restlichen Bundesgebiet kam es zum studentischen Aufschrei. An Demonstrationen gegen die miserablen Studienbedingungen nahmen in Bielefeld, Bremen, Darmstadt, Düsseldorf, Göttingen, Hamburg, Hannover und Wiesbaden mehrere zehntausend Menschen teil. „Wir lassen uns nicht länger von der Diskussion um die Hochschulreform aussperren“, erklärte Leonie Bernhard vom neugegründeten freien „zusammenschluß der studentInnenschaften“ (fzs) in Bonn. Bei einer „bundesweiten Aktionswoche“ rief der fzs einen „kreativen Ausnahmezustand“ aus. Die StudentInnen boykottierten die Vorlesungen oder verlegten sie auf die Straße und in die U-Bahn. In „autonomen Seminaren“ gingen sie alternativen Lehrinhalten nach. Die Beteiligung war dabei offenbar vielerorts unterschiedlich.
Der Studentenprotest, seit Montag von Lübeck bis Freiburg, von Aachen bis Berlin im Gange, richtet sich gegen die weitere Verschlechterung der Studienbedingungen und die sich weitgehend in Sanktionen erschöpfende Reform durch Kultusminister und Bundesregierung. Bildungs-„Deform“ sagen die Studierenden dazu. Geprägt ist die Situation an den Unis von dem, was Rudi Dutschke mal „vollkommene Beziehungslosigkeit“ zwischen Lehrenden und Lernenden nannte. Inzwischen 1,86 Millionen Studenten sind für 900.000 Studienplätze eingeschrieben. Seit der Studentenbewegung ist zwar deren Zahl explodiert. Für die Lehre ist 1993 kaum mehr Lehrpersonal als 1977 zuständig. Um 6 Prozent stieg die Zahl der Profs. Läßt man den Zuwachsbereich Medizin und Sonderprofessuren weg, bleibt ein kümmerliches Mehr an 1,7 Prozent.
Absage an Wärmehallen der Nation“
Doch auch dieser Zuwachs hat sich erledigt, wenn Berlins Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU) seine Reformpläne verwirklicht. „Wärmehallen der Nation“ sind die Universitäten für den Vorreiter der staatlich betrieben Hochschulreform. Erhardt bekämpft den „Studentenberg“, indem er Lehrpersonal abbaut. 15.000 Studienplätze will er aus Einsparungsgründen bis zum Jahr 2003 wegfallen lassen. Die ersten, die aus der Uni rausfliegen, sind wissenschaftliche Mitarbeiter und TutorInnen. Auch einem der wenigen, unter Rektoren und Ministerialen bundesweit anerkannten Reformmodelle droht der Garaus: Die Projekttutorien, an Berlins TU entwickelt und an der FU im Un(i)-Mut-Streik 88/89 zur Beruhigung der StudentInnen eingerichtet, würden sukzessive wegfallen. Und bei den Professoren beginnt jetzt das Wehklagen: die Lehre drohe zusammenzubrechen, heißt es. Schlimmer noch: „Eine ganze Generation von Nachwuchswissenschaftlern wird hängengelassen“, so Ulrich Steinmüller, Vizepräsident der TU Berlin.
An anderen Unis ist die Situation ähnlich. Die Uni Heidelberg erbrachte im Frühsommer die von der Landesregierung geforderten Sparmittel aus einem Tutorientopf zur Verbesserung der Lehre. An der Uni des Saarlandes könnte Faust auch „mit heißem Bemühen“ weder „Philosophie, Juristerei noch Medizin und leider auch nicht Theologie“ studieren. Dieses triste Bild einer „Universität“ dichtete der Asta der Saaruni. Dort ist der systematische Abbau der geisteswissenschaftlichen, pädagogischen und sprachlichen Studiengänge bis 2005 geplant.
Diesen Trend beobachten die Studierenden in der ganzen „Bildungsreform von oben“. Festgeschrieben ist sie in einem sogenannten „Eckwertepapier“. Bund und Länder sind darin übereingekommen, daß künftig schneller und kürzer studiert werden soll. Nordrhein-Westfalen und Berlin haben die Maßnahmen bereits verabschiedet. Sie schreiben Regelstudienzeiten von durchschnittlich neun Semestern per Gesetz verbindlich vor. Dies soll studierbar werden, indem die Universitäten ihre Studienordnungen „entrümpeln“, sprich: Lernstoff über Bord werfen. In neun Semestern, so ein weiterer Aspekt der Reform, ist ein berufsqualifizierendes Studium abzuschließen. In Graduiertenkollegs, die derzeit wie die Pilze aus den universitären Böden der Republik schießen, wird dann der wissenschaftliche Nachwuchs herangezogen. Schluß mit der Promotion im stillen Kämmerlein.
„Kühle Rechner und nicht Dichter und Denker“ werden das Ergebnis sein, beklagt der Asta an der Saar. Und die Fachschaft Philosophie der angesehenen RWTH Aachen kritisiert, daß ein Studium für den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ nur noch auf Berufsfertigkeiten ziele. Die Erweiterung der persönlichen und gesellschaftlichen Handlungsspielräume werde ausgeblendet. Die Aachener Philosophen streben den Uni- Konzepten Ernst-Ulrich von Weizsäckers oder Michael Daxners nach. Sie wollen Forschung und Lehre konsequent auf Problemfelder wie Umweltzerstörung, den Nord-Süd-Konflikt, Rassismus, Demokratie oder Technik- Folgen ausrichten. Christian Füller
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