Sanssouci: Vorschlag
■ "Die Verfolgung" von Rudie Ewals im Künstlerhaus Bethanien
Authentische Erfahrungen sind im Medienzeitalter schwer zu haben. Immer entlegenere Winkel sucht die Kamera auf, immer drastischer werden die Bilder. Abenteuerurlaube sollen mit dem herrlichen Gefühl der „Echt-Gefahr“ konfrontieren, und Reality-TV vermittelt dem auf dem Sofa Sitzengebliebenen ein wie auch immer geartetes aufregendes Leben. Doch die Gier nach Authentizität bringt das genaue Gegenteil hervor: Die Realität verschwindet in den Bildern, die Welt wird zur Simulation.
„Die Verfolgung“ nennt Rudie Ewals den zweiten Teil ihrer „Beobachtungen aus dem Handgelenk“, die derzeit im Künstlerhaus Bethanien zu sehen sind. Eine Tanz- und Videoinszenierung, die die Zuschauer mit der Wahrnehmung aus der Perspektive der Beobachteten konfrontiert. Vorgeführt wird das Verschwinden der Realität, die Grausamkeit des Blicks, die Lust des Voyeurismus. Die Aufführung findet statt, doch zu sehen ist nur ein DJ, der Platten auflegt, die man nicht hören kann. Hinter zehn zweieinhalb Meter hohen Stellwänden hat Rudie Ewals ihre drei Tänzerinnen vor den Blicken der Zuschauer verborgen – der Zuschauerraum entpuppt sich als Wartesaal. Nur ein handbreiter Spalt zwischen den einzelnen Stellagen gibt die Sicht frei. Man hört das Keuchen und Stampfen im anderen Raum, sieht ein Stück nackten Schenkel, den Fetzen eines Kleides oder eben auch immer wieder nichts. Vier von der Decke herabhängende Fernseher zeigen statt dessen, was hinter den Wänden vor sich geht, und zeigen es auch nicht. Denn Rudie Ewals hat auf die der Kamera eigenen Mittel gänzlich verzichtet: keine Fahrten um die Bühne, die deren Dreidimensionalität filmisch erzeugen, keine Zooms oder Standortwechsel. Zu sehen gibt es auch hier nur einen Fuß oder einen Arm, einen rollenden Körper und immer wieder den leeren Raum. Das Geschehen selbst, die Echtzeit, ist für die Kamera uneinholbar. Doch je begrenzter, zerstückelter das ist, was uns die Kamera bietet, desto gieriger werden wir auf das tatsächliche Geschehen. Dort scheint sich das Unmittelbare, das wirkliche Leben, abzuspielen. Das wilde Körpertier auf der anderen Seite der Absperrung, von dem sich nicht mehr als eine Ahnung vermitteln kann und das durch den unentwegten Blick der Kamera sichtlich an Kraft verliert. Michaela Schlagenwerth
15. bis 19.12. jeweils um 20.30 Uhr im Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz, Kreuzberg.
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