: Gedenken an ein Massaker
Deutsche Vergeltungsaktion von Kalavrita ■ Von Werner Hörtner
Das malerisch am Fuß des 2.400 Meter hohen Chelmos-Massivs gelegene Kalavrita ist wegen seines kühlen Klimas eine beliebte Sommerfrische und seit einigen Jahren auch Sitz des einzigen Skizentrums am Peloponnes. Die Touristen betreten die Kleinstadt meist nur für wenige Stunden: Hier endet die von britischen Ingenieuren vor 100 Jahren gebaute Zahnradbahn, die vom Küstenstädtchen Diakoftó am Golf von Korinth in kühner Spur durch Schluchten und Tunnel 23 Kilometer hinaufkeucht.
Nur wenige Reiseführer erwähnen jene Tragödie, die sich hier vor genau einem halben Jahrhundert ereignete: Im Dezember 1943 wurden im Rahmen einer Vergeltungsaktion für von Partisanen ermordete deutsche Soldaten, dem „Unternehmen Kalavrita“, über zwanzig Dörfer und Klöster dieser Gebirgsregion im nördlichen Peloponnes zerstört und etwa 1.300 Jugendliche und Männer erschossen.
Allein in Kalavrita, das damals an die 3.000 Einwohner zählte, wurden am Nachmittag des 13. Dezember alle männlichen Bewohner über 13 Jahre in einer Massenhinrichtung erschossen. Schon bald darauf muß der Mythos des „Helden von Kalavrita“ entstanden sein: Ein österreichischer, nach anderer Lesart: deutscher Soldat rettete unter Einsatz seines Lebens die Frauen und Kinder der Stadt vor der drohenden Ermordung. Heute noch wird die schöne Geschichte in griechischen Medien und sogar in Schulbüchern verbreitet. Doch so rührend die Erzählung vom Helden von Kalavrita auch klingt – sie stimmt nicht. Es handelt sich dabei um ein Musterbeispiel moderner Legendenbildung, an dessen Entstehen und Fortbestand verschiedene Interessen beteiligt sind.
Verläßt man den kleinen Bahnhof von Kalavrita, fällt einem gleich ein monumentales Wandgemälde neben jener Schule auf, in der am Schreckenstag von 1943 die Frauen und Kinder eingesperrt waren. Zwei Engel schweben über den Trümmern von Kalavrita, dem „Mitglied der Gemeinschaft der gemarterten Städte“, wie über der Darstellung vermerkt ist. Daneben stehen andere Namen aus dieser Liste des Grauens: Marzabotto, Oradour, Lidice ... Auch im Ort selbst sind die Spuren der Vergangenheit allgegenwärtig: die Kirchturmuhr, die auf 14 Uhr 34 steht, dem Zeitpunkt, als die emporzüngelnden Flammen sie zum Stillstand brachten, Ruinen abgebrannter Häuser – und der Friedhof.
Die „Straße des 13. Dezember“ führt am Friedhof vorbei zur Gedenkstätte am „Paliopigado“, dem „Alten Brunnen“, wo an jenem 13. Dezember im Jahre 1943 alle männlichen Bewohner Kalavritas – der jüngste war 13 Jahre alt – erschossen wurden. Dreizehn Männer konnten sich aus dem Berg von achthundert Leichen lebendig befreien. Sie berichteten über die Einzelheiten der Massenhinrichtung – und auch darüber, daß ihnen der Befehlshaber des Einsatzkommandos das Ehrenwort gegeben habe, es werde nur die Stadt zerstört, doch niemand werde getötet.
Vor der Tragödie von Kalavrita war es im zweiten Halbjahr 1943 am Peloponnes zu einem starken Ansteigen der Aktivitäten der ELAS, der kommunistisch dominierten Partisanenbewegung, gekommen. Eine etwa hundert Mann starke Einheit der deutschen Armee unter Führung von Hauptmann Schober wurde im Oktober 1943 ausgeschickt, um den Oberkommandierenden der ELAS- Partisanen, Oberst Michos, ausfindig zu machen. Das Unternehmen scheiterte: die Schober-Einheit wurde aufgerieben, und 85 Soldaten wurden festgenommen. Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln kamen angesichts der deutschen Weigerung, irgendeine Konzession einzugehen – die Partisanen forderten einen Gefangenenaustausch –, nicht weit. Anfang Dezember wurden die Geiseln auf den Chelmos geführt und dort erschossen.
Der einzige Überlebende, ein elsässischer Soldat, berichtete von der Anwesenheit eines britischen Offiziers bei der Hinrichtung. Tatsächlich weisen später bekanntgewordene Dokumente darauf hin, daß die Briten über ihre Verbindungsoffiziere einen starken Druck auf die Partisanen ausübten, damit diese, entgegen ihrer Tradition, die Geiseln hinrichteten. Die Engländer verfolgten – und erreichten – mit dieser Haltung ein doppeltes Ziel: den kommunistischen Widerstand in Griechenland zu diskreditieren und die Deutschen zu einer Vergeltungsaktion gegen die ELAS zu zwingen, was den Haß der Bevölkerung auf die Besatzungsmacht weiter steigern würde.
Schon einen Tag nach dem Geiselmord, am 8. Dezember, begann das „Unternehmen Kalavrita“, das am 13. mit dem großen Massaker endete. Diese Aktion war jedoch nicht als Vergeltung für den Geiselmord konzipiert, sondern sie war Teil eines Planes zur Auflösung der in dieser Region starken Widerstandsgruppen. Bereits zehn Tage vor dem Massaker, also noch vor der Hinrichtung der deutschen Geiseln, hat ein Funker der deutschen Armee die Briten über diesen Plan informiert.
Um die Männer und Jugendlichen ungestört erschießen zu können, waren die Frauen und Kinder in das Schulgebäude von Kalavrita eingesperrt worden. Mittlerweile wurde die Stadt niedergebrannt. Als die Eingeschlossenen den Rauch wahrnahmen, gerieten sie in Panik. „Die Frauen haben ihre Kleinkinder zum Fenster hinausgeworfen und sind dann nachgesprungen“, erzählt Spyridon K., der mit seiner Mutter in der Schule eingeschlossen war. „Schließlich gelang es ihnen, die Türe zu öffnen, und nun konnten alle ins Freie laufen. Einige ältere Frauen wurden bei der Flucht niedergetreten und starben, doch sonst wurden alle gerettet.“ Die das Schulgebäude bewachenden Soldaten ließen die Frauen mit ihren Kindern entkommen, da sie keinen Schießbefehl hatten. Hier setzt die Legende vom Helden ein.
„Ein österreichischer Soldat hat von der drohenden Tötung der Frauen und Kinder erfahren und in der Nacht die Tür der Schule geöffnet, so daß alle fliehen konnten. Er wurde dafür am nächsten Tag standrechtlich erschossen“ – diese Version hört man auf Reisen in Griechenland und vor allem am Peloponnes immer wieder. Manchmal erfährt die Geschichte nationale Abwandlungen. So wurde zum Beispiel in einer Reportage in der Zeit vor drei Jahren von einem „jungen deutschen Soldaten“ berichtet, der mit seinem Gewehrkolben die Hintertür der Schule eingeschlagen und so alle Frauen und Kinder gerettet habe. Die Stadt Kalavrita habe dem Helden sogar ein Denkmal gesetzt, wußte der deutsche Journalist zu erzählen. „Daraufhin kamen deutsche Touristen und suchten das Denkmal ihres Helden“, lächelt Spyridon K., „doch wie sollen wir jemandem ein Denkmal setzen, den es gar nicht gegeben hat?“
Die Bevölkerung von Kalavrita ist auch heute noch in der Frage, wie die Frauen und Kinder ihr Schulgefängnis verlassen konnten, gespalten. Berührt ein Fremder im Kafeneion das Thema, so werden sich gleich zwei Parteien bilden: die Befürworter und die Ablehner der Geschichte des Helden von Kalavrita. Für die Existenz dieses Helden gibt es jedoch keinen einzigen konkreten Hinweis, auch nicht in den sonst so genauen deutschen Wehrmachtsprotokollen. Wieso dann die Legende vom guten Feind, der unter Einsatz seines Lebens Frauen und Kinder rettet?
Für die in der Schule festgehaltenen Frauen war es unglaublich, daß sie mit ihren Kindern fliehen konnten, ohne von den um das Gebäude postierten Wachsoldaten aufgehalten zu werden. Die Stadt stand in Flammen, von einem Hügel oberhalb des Ortes waren seit Stunden die MG-Salven des Hinrichtungskommandos zu hören – ein Endzeitszenario des Schreckens. Die Frauen rannten mit ihren Kindern in Todesangst in die Felder und Weinberge um Kalavrita – der Ort wurde erst Monate später wieder besiedelt, nachdem die deutsche Besatzungsarmee abgezogen war. Die Tatsache, daß alle ihre Männer und Söhne an diesem Tag hingerichtet worden waren, verstärkte in den Frauen die Gewißheit, daß auch sie mit ihren Kindern hätten ermordet werden sollen: in der Schule verbrannt. So könnte die Erklärung entstanden sein, eine externe Macht – eben ein Angehöriger des Feindes – habe ihnen die Türe geöffnet und die Flucht ermöglicht.
Der viele Jahre lang amtierende Bürgermeister von Kalavrita, Panos Polkas, ist genauso ein Vertreter der Legende wie der griechisch-orthodoxe Bischof der Region, Metropolit Ambrosius. Auch sonst zeigten und zeigen offizielle Stellen in Griechenland wenig Interesse daran, die Geschichte vom Retter der Frauen und Kinder historisch ins rechte Licht zu rücken. Da drängt sich die Vermutung auf, daß mit dieser Legende abgelenkt werden soll: Wird die Vergangenheit zum Mythos, wird die wahre Geschichte nicht mehr hinterfragt.
Auch in Griechenland gab es Kollaborateure mit der deutschen Besatzungsmacht, auch hier waren es vor allem die Vertreter der Verwaltung und der Kirche, die sich mit den Besatzern arrangierten. Es heißt sogar, daß Griechen in deutschen Uniformen an der Erschießung ihrer Landsleute in Kalavrita teilgenommen hätten. So wäre es verständlich, daß man diese dunkle Episode lieber im Halbdunkel der Legende beläßt. Der Mythos als Mittel der Vergangenheitsbewältigung.
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