: Unterm Strich
Christo wird allmählich ungeduldig: In spätestens 70 Tagen will er von Bonn eine endgültige Entscheidung zur Reichstags-„Verhüllung“. Man kann den Mann ja irgendwo auch verstehn: Seit über 20 Jahren bemüht sich der nach Amerika emigrierte Land-Artist aus Bulgarien um die Genehmigung zum Stoffwechsel an dem geschichtsträchtigen Ort. Das Projekt hat bereits vier Bundestags- und andere Präsidenten an sich vorüberziehen sehen, ohne daß sich die Jenningers, Rengers, Carstens und Weizsäckers zu einem Wink mit dem Amtsstempel hätten durchringen können. Dabei bliebe selbst Waigels Geldbörse vom kulturellen Firlefanz gänzlich unberührt. Als aufrecht autonomer Künstler nicht an einer Politisierung seiner Arbeit interessiert, zahlt Christo den Spaß aus eigener Tasche.
Noch schneller muß die Treuhand entscheiden, was aus der angesammelten Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR werden soll. Deswegen wird darüber in Berlin ein öffentliches Symposium abgehalten. Schließlich zählt der sozialistische Realismus zum weiterreichenden Nachlaß, der bislang kulturtreuhänderisch verwaltet wurde. Jetzt haben aber nicht nur Sammler wie Kaffeekönig Ludwig ihr Interesse an der Entsorgung der Altlasten aus den großbetrieblichen Kantinen und Chefetagen angemeldet, sondern auch olle Blockwart und seine Frau in Bitterfeld und anderswo. Die Folge: Mir nichts dir nichts wären alle Bilder vom Glanz und Elend der DDR in der Versenkung des Privaten verschwunden. Was soll sich dann Helmut Kohl über den Schreibtisch oder in sein Museum für deutsche Geschichte hängen? Vielleicht eine Skizze aus der Projekt-Mappe von Christo.
Kurz vor Weihnachten haben die Menschen immer sehr merkwürdige Ideen: Manche stürzen sich zu Tode, weil sie die jährlich schneller vergehende Zeit nicht ertragen können, andere reden melancholisches Zeug, brauen unentwegt Feuerzangenbowle und stoßen bereits zum Nikolausabend auf das kommende Jahr an. Ganz andere jedoch glauben einfach nur noch fester an Gott. Für sie hat der Pattloch-Verlag zur Abschreckung eine Foto-Bibel herausgegeben: Auf jugendgefährdenden Bildinszenierungen in sattem Splatterrot erschlägt Kain seinen Bruder Abel, und bei Jesu Geburt darf der Gläubige direkt aus der ersten Reihe in Marias Schoß hineinschauen. Frohes Fest!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen