"Arafat war noch nie hier"

■ Statt abzuziehen, erschossen israelische Soldaten in Gaza gestern zwei Palästinenser

Gaza (taz) – Das „heilige Datum“ 13. Dezember verlief im Gaza-Streifen blutig. Am Morgen entführte ein junger Palästinenser, der der Gruppe des Islamischen Dschihad zugerechnet wurde, einen Krankenwagen und versuchte damit in eine israelische Militärpatrouille zu fahren. Der Palästinenser verbrannte in dem Auto, ein israelischer Soldat wurde verletzt. Am Nachmittag erschossen israelische Soldaten im Flüchtlingslager Rafah zwei junge Palästinenser. Der seit zwei Jahren gesuchte 24jährige Aschraf Jamil Hussein As-Sundi wurde der Islamistenorganisation Dschihad Islami zugerechnet, der 19jährige Muhammad Abu Muammar soll zur „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ gehört haben. Aus Protest gegen den von den Israelis verschobenen Beginn des Truppenabzugs hatte die islamistische Hamas-Bewegung das gestrige Datum zum „Tag der Trauer“ erklärt.

„Die einzigen mit hohen Erwartungen waren die Journalisten, die zu Hunderten hier angereist sind“, erklärte gestern ein UN-Vertreter vor Ort. Den meisten Palästinensern war schon seit letzter Woche klar, daß der 13. Dezember nicht der Tag sein würde, an dem sie aufwachen würden, und die israelische Armee hätte sich in Luft aufgelöst.

PLO-Chef Arafat hatte noch letzte Woche vom „heiligen Termin“ gesprochen. Doch für die Menschen im Gaza-Streifen wurde schon bald klar, daß an dem festgelegten Termin bestenfalls symbolische Aktionen der Israelis zu erwarten waren. Bestärkt wurde diese kleine Hoffnung am Sonntag von Meldungen des israelischen Fernsehens, in denen über die Räumung eines Militärcamps in der Mitte des Flüchtlingslagers Dschabaliya spekuliert wurde. Die Rede war auch von der Freilassung von 1.200 der insgesamt rund 10.000 in israelischen Gefängnissen sitzenden Palästinenser und der Auflösung einer Polizeistation am Strand der Stadt Gaza.

Nichts dergleichen passierte. Die israelische Polizeistation mit Meeresblick gleicht einer Festung. In Dschabaliya fahren weiterhin israelische Jeeps aus und ein. Dschabaliya ist das größte Flüchtlingslager im Gaza-Streifen und mit seinen 70.000 Einwohnern ein einziger Slum. Es gilt als eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt.

Das Militärcamp ist den Einwohnern als „Lager im Lager“ seit 1967 ein Dorn im Auge. Mitten im Zentrum gelegen, zwingt es die Palästinenser, den Stützpunkt in langen Umwegen zu umgehen, um Freunde und Nachbarn besuchen oder einfach nur einkaufen zu gehen. Das Militär hatte den Stützpunkt in den letzten Jahren ausgebaut, um das Lager von innen her zu „befrieden“. Erst vor einem Jahr mußten die Bewohner der umliegenden Häuser ihre Mauern und Aufbauten auf den Dächern einreißen, damit diese nicht von Steinewerfern als Deckung benutzt werden konnten. Auf einige der Flachdächer setzte die Armee sogar Wellblechpyramiden, um zu verhindern, daß die Dächer als Operationsbasis gegen das Militärcamp benutzt werden können.

„Obwohl wir schon gestern nach dem Treffen zwischen Rabin und Arafat gehört haben, daß es keine vertrauensbildenden Maßnahmen geben wird, waren wir doch aufgeregt bei jedem Geräusch von Lkws, das wir in unseren Häusern hören konnten“, beschrieb einer der Einwohner seine Nacht. Ab acht Uhr abends herrscht im ganzen Gaza- Streifen Ausgangssperre. Doch als die Palästinenser am Morgen wieder auf die Straße gingen, sah alles aus wie eh und je. Im Zentrum des Palästinenserlagers wehte weiterhin die israelische Fahne.

„Arafat war noch nie hier, sonst würde er nicht sagen, daß es auf zehn weitere Tage nicht ankommt. Mir kommt es darauf an“, erklärt der Besitzer eines Ladens, der direkt an den Zaun des Militärcamps angrenzt. Allein seit der Unterzeichnung des Grundsatzabkommens zwischen Arafat und Rabin vor drei Monaten wurden 25 Palästinenser von israelischen Soldaten erschossen.

„Was soll's, die Sonne geht weiterhin im Osten auf“, sagt Raji Sorani, der Vorsitzende eines Menschenrechtsvereins. Daß nichts passiert ist, hätte ihn keineswegs überrascht. Es sei aber ein weiteres Detail, das zur Verwirrung und Frustration der Menschen hier beitrage. Er erwartet, daß die Spannung jetzt noch zunehme. „Es wird erneut Gewalt ausbrechen“, prophezeit Sami Handani, einer der Vertreter von Arafats Fatah-Organisation im Gaza-Streifen. Die Jugendlichen könnten zeigen, „daß Verhandlungen nicht der einzige Weg sind“, fügt er hinzu.

So bleibt der gesamte Gaza-Streifen vorläufig unter der Kontrolle der israelischen Armee. Nur in Khan Yunis, einem Dorf im südlichen Gaza-Streifen, steht ein alter Mann auf einer der Hauptstraßen und regelt den Verkehr. „Das ist noch nicht unsere palästinensische Polizei, sondern ein Verrückter, der schon seit langem damit seine Tage verbringt, eifrig die Kennzeichen aller vermeintlichen Verkehrssünder in seinem Block zu notieren“, klärt einer der Passanten auf und kann dabei immer noch lachen. Karim El-Gawhary