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Anrainer suchen verstärkt Annäherung an Westeuropa

■ Im Baltikum geht die Angst vor russischem Expansionsdrang um, in Finnland ist die Aufgabe der Neutralität zugunsten einer Nato-Mitgliedschaft kein Tabu mehr

Der Wahlerfolg Wladimir Schirinowskis hat in den Staaten an Rußlands Nordwestgrenze für spürbare Unruhe gesorgt. Estlands Präsident Lennart Meri erklärte in einer ersten Stellungnahme, daß sich sein Land nun um noch engere Kontakte zum Westen bemühen werde. Das Reizwort „Nato“ vermied er allerdings. Litauens früherer Parlamentspräsident Landsbergis, jetzt Führer der nationalistischen Opposition, macht den Westen für das Wahlergebnis in Rußland verantwortlich. Zu lange habe er die Augen vor dem russischen Expansionsdrang verschlossen: „Wenn der Westen glaubt, es kann so etwas wie ein demokratisches Imperium geben, wer weiß dann, ob er nicht einmal zu dem Schluß kommt, daß auch ein demokratischer Faschismus möglich sei?“

Am heutigen Mittwoch werden die Präsidenten und Außenminister der drei baltischen Staaten zu einem Gipfeltreffen in der estnischen Hauptstadt Tallinn zusammenkommen, um über die Situation nach den russischen Wahlen zu beraten. Der kürzlich zurückgetretene estnische Verteidigungsminister Hain Rebas bezeichnete in einem Interview mit dem schwedischen Rundfunk die Drohungen Schirinowskis gegen die Selbständigkeit Estlands, Lettlands und Litauens als durchaus ernst zu nehmend. Schirinowski hatte kürzlich Schweden aufgefordert, schon mal Flüchtlingsunterkünfte für Zehntausende zu bauen, die bald über die Ostsee fliehen würden.

Halbe Million russische Soldaten an der Grenze

Das finnische Außenministerium reagierte wie immer, wenn sich im riesigen Nachbarland große Dinge tun: zurückhaltend. Verteidigungsministerin Elisabeth Rehm stimmte nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses erst mal in den Abwieglerchor ein: „Kein Grund zur Unruhe. Egal, wer die Macht hat: Wir müssen uns weiter für gute Beziehungen einsetzen.“ Das staatliche Fernsehen dagegen führte seinen Zuschauern vor, was Rußlands rechtsextremer Wahlsieger über die Zukunft ihres Landes gesagt hatte. „Finnland wird ein Teil Rußlands werden, wie vor der Oktoberrevolution 1917.“ Und die Zeitung Kansan Uutiset sagte dem Land „Jahre der Gefahr“ vorher.

Einig sind sich die Beobachter darin, daß Schirinowskis Erfolg den Befürwortern des finnischen EU-Beitritts erheblichen Zulauf bringen dürfte. Auch die Aufgabe der immer noch unangetasteten militärischen Neutralität zugunsten einer Nato-Mitgliedschaft ist jetzt kein Tabu mehr. An Finnlands Ostgrenze haben die russischen Streitkräfte in den letzten Monaten ihr dort stationiertes Kontingent erheblich aufgestockt. In Karelien und in der Region um St. Petersburg stehen heute etwa eine halbe Million Soldaten, die, was die Panzerstärke und die Hubschrauberbewaffnung angeht, besser ausgestattet sind als je zuvor in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg. Rußlands Verteidigungsminister Paval Gratjow hatte diese Mobilisierung auf unruhige Fragen aus Helsinki hin damit begründet, daß dieses Gebiet nach dem Rückzug aus dem Baltikum für Rußland ein „Militärdistrikt von herausragender strategischer Bedeutung“ geworden sei. Eine Antwort, die in finnischen Militärkreisen die vorhandene Unruhe noch verstärkte.

Auch am nördlichen Abschnitt der gemeinsamen Grenze wurde auffallend aufgerüstet. Abgesehen von den hierhin verlegten Truppen aus Osteuropa ist dafür das Salt-II- Abkommen verantwortlich. Rußland mußte seine bodengebundenen Atomwaffen abbauen, hat dafür aber bei den auf U-Booten stationierten kräftig aufgestockt. Als Finnlands Ministerpräsident Esko Aho kürzlich in den Raum stellte, die Annäherung an die EU und die Nato könne parallel erfolgen, erntete er noch heftige Kritik. Nach dem Wahlergebnis in Rußland jedoch forderten finnische Zeitungen nahezu aller politischer Ausrichtung genau dies. Reinhard Wolff

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