: Boris Groys touristische Triebe
Die reale Stadt ist ein Torso, ein nie enden wollendes Provisorium. „Vorläufig, ungewiß und vergänglich.“ Die vollendete Stadt hingegen ist ein touristisches Ereignis: Mit dem wuchernden Tourismus nimmt das Bedürfnis zu, „Ewiges“ zu gestalten, Monumente zu errichten. Wobei das touristische Treiben Absurdes produziert. „Die Bronx muß bleiben“, ansonsten wäre der Trip nach New York die Reise nicht wert. Elend als eine kalkulierte touristische Variante, die Bleibendes suggeriert und als zweifelhafte Attraktion musealisiert wird?
Die gewagten Thesen stammen vom Kulturtheoretiker Boris Groys, der in der Reihe „Perspektiven metropolitaner Kultur“ im Literaturhaus seine Quantentheorie des städtischen Tourismus vortrug. Groys, der in Münster Russische Geistesgeschichte lehrt, entwarf eine „Stadt auf der Durchreise“, die sich dem touristischen Diktat unterwirft und dadurch zum leblosen Monument erstarrt.
Die Gründe für die moderne Massenflucht des „Urlaub-machens“ liegen in der menschlichen Natur. Groys deutet das Reisen als eine anthropologische Konstante, „es ist die Flucht vor uns selbst, um auf Umwegen auf uns selbst zurückzukommen.“ Der Reisende ist auf dem Weg zur vermeintlichen Ewigkeit, auf der Suche nach Identitäten, die gegenwärtig drohen, verloren zu gehen. Wobei „das Denken durch das Reisen ersetzt wird“, so Groys. Ein traumatischer Prozeß, der letztendlich dazu führt, daß Städte zu touristischen Attraktionen verkommen. Diese vermitteln zwar die Illusion, an einem unvergänglichen Ereignis teilgenommen zu haben, doch haust hinter der musealen Fassade nur träge Öde.
Doch Groys gibt Entwarnung: Die massenmobile, reisesüchtige Zivilisation ist noch nicht das Ende der Städte und ihrer Kultur schlechthin. Allerdings zeige der ungebrochene, beinah manische Drang, ständig anderswo zu sein, den frappierenden Bruch zwischen Reisen und Sein im Bewußtsein der Menschen.
Dierk Jensen
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