: Ein bitteres Fazit
Das Überleben von mehr als 2,7 Millionen Menschen hängt von der humanitären Hilfe ab ■ Von Judith Kumin
Srebrenica ist ein Alptraum. Wohl über 30.000 Menschen leben in der belagerten ostbosnischen Enklave – in einer Stadt, die ursprünglich 6.000 Einwohner zählte. Nein, sie leben dort nicht. Sie überleben von Tag zu Tag, in zerschossenen Häusern, auf den Straßen. Kaum Wasser, kein Strom, seit über einem Jahr von der Außenwelt abgeschnitten. Keine Stadt mehr, sondern ein einziges, von Menschen überquellendes Flüchtlingslager. Wenn es gut geht, kommen zwei- bis dreimal pro Woche UNHCR- Hilfskonvois aus Belgrad durch – die Nabelschnur, die Srebrenica am Leben hält.
Ich sah die Frau in einem vollkommen überfüllten Schulgebäude mit Hunderten von Flüchtlingen. Sie starrte mich an. Dann brach es aus ihr heraus: „Warum kommt ihr hierher, um uns zu füttern wie Tiere im Zoo? Wenn ihr nichts tun könnt, wenn ihr uns nicht das Leben zurückgeben könnt, warum laßt ihr uns nicht einfach sterben?“
Welche Antwort gibt es auf diese verzweifelte Frage? Wir, die UNHCR-MitarbeiterInnen, fragen uns doch auch ständig: Lindern wir durch unsere Präsenz das Leiden der Opfer oder verlängern wir lediglich diesen barbarischen Krieg?
Gewiß ist: Humanitäre Hilfe kann kein Ersatz für politisches Handeln sein. Und sie darf nicht zum Instrument politischer oder militärischer Schachzüge der Kriegsparteien verkommen. In Bosnien ist jedoch eben dies an der Tagesordnung: Alle Seiten versuchen, humanitäre Anstrengungen für ihre politischen Zwecke zu mißbrauchen. Die Hohe Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen, Sadako Ogata, hat bereits im Sommer deutlich gemacht: „In einem derart feindseligen und offensichtlich von Skrupellosigkeit geprägten Klima kann von UNHCR und anderen Hilfsorganisationen nicht erwartet werden, ihre Operationen unbegrenzt fortzusetzen.“
In diesem Jahr haben zehn UNHCR-Mitarbeiter in Bosnien durch gezielte Angriffe ihr Leben verloren. Wochenlang konnten in Zentralbosnien keine Hilfskonvois auf den Weg gebracht werden. Die Kriegsherren verweigerten die freie Durchfahrt. Über eine Million Menschen warteten bis Ende November vergebens auf internationale Hilfe. Erst nach mühsamsten Verhandlungen sagten nacheinander die politischen und militärischen Führer der Volksgruppen schriftlich zu, die Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen nicht weiter zu blockieren.
Skepsis ist jedoch angebracht: Konnten wir zunächst melden, daß unsere Hilfskonvois die Straßensperren passieren, mehren sich nun wieder die negativen Nachrichten. Behinderungen, Verzögerungen, Durchsuchungen der LKWs – bürokratische Schikanen, die eindeutig gegen die Genfer Vereinbarungen verstoßen.
Ob berechnendes Handeln oder Willkürakte einer Soldateska, die sich der Kontrolle ihrer politischen Führung entzogen hat – über 2,7 Millionen Menschen, von internationaler Hilfe abhängig, sind die Bauern auf dem blutigen Schachbrett des menschenverachtenden Bosnien-Konflikts.
Der Einbruch des Winters hat ihre Situation noch verschlimmert. Im letzten, milden Winter herrschte in Zentralbosnien noch weitgehend Frieden. Handel war möglich, die Menschen konnten sich selbst versorgen. Heute warten die Einwohner von Mostar, Travnik, Vitez oder Zenica ebenso auf die internationale Hilfe wie die von Sarajevo, Maglaj, Tesanj, Zepa, Tuzla, Srebrenica und Goražde. In diesen Städten haben darüber hinaus Hunderttausende von Vertriebenen Zuflucht gesucht.
Vor zwei Monaten wandte sich Sadako Ogata an die internationale Staatengemeinschaft mit der Bitte um Finanzierung weiterer humanitärer Hilfsmaßnahmen im ehemaligen Jugoslawien. Seitdem füllen sich die zentralen UNHCR- Depots in Metković (im Süden Kroatiens), Zagreb und Belgrad nicht nur mit Nahrungsmitteln und Medikamenten, sondern auch mit Plastikplanen, Nägeln und Werkzeug. 600.000 Menschen sollen in die Lage versetzt werden, die zerschossenen Fensterscheiben ihrer Wohnungen und Häuser notdürftig zu ersetzen.
Überall fehlt es an Winterkleidung: 400.000 Anoraks, Handschuhe und Mützen, aber auch 140.000 Schlafsäcke und 800.000 Decken werden dringend gebraucht. Lebenswichtig ist auch die Lieferung von Brennstoff und Öfen. In den Kriegsgebieten ist die Energieversorgung so gut wie zum Erliegen gekommen. Vorrangig gilt es sicherzustellen, daß Einrichtungen wie Hospitäler, Bäckereien, Kraftwerke weiterarbeiten können. Eine Stadt wie Sarajevo braucht wöchentlich 175.000 Liter wintertaugliches Diesel, um wenigstens elementare Dienstleistungen aufrechterhalten zu können.
Es war das erklärte Ziel von UNHCR, monatlich rund 30.000 Tonnen Hilfsgüter in Bosnien zu verteilen, vornehmlich Nahrungsmittel und Medikamente. Im Winter, so haben unsere Mitarbeiter ausgerechnet, wären eigentlich 50.000 Tonnen notwendig. Doch die beste Monatsbilanz weist nicht einmal die Hälfte dieser Menge aus.
Laut Plan soll jeder Hilfsempfänger in Bosnien pro Tag eine Nahrungsmittelration von 614 Gramm erhalten. Überwiegend Weizenmehl, ein paar Linsen oder Bohnen, Öl, Zucker und Salz, ein wenig Käse, Fisch oder Fleisch aus der Dose. Zumindest für die Kleinkinder, die schwangeren Frauen und die (fast immer vergessenen) Alten soll es Milchpulver, proteinhaltige Kekse und Vitamin-C-Tabletten geben.
Für uns ist dies unvorstellbar wenig. Doch die Zivilbevölkerung in Bosnien muß mit noch weniger auskommen. Denn trotz aller Bemühungen ist es uns bislang nicht gelungen, mehr als die Hälfte der kalkulierten Ration täglich zu gewährleisten.
Ein bitteres Fazit. In diesem Winter spielt sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine humanitäre Tragödie ab. Wer kann sie noch abwenden? Die Menschen in Bosnien-Herzegowina sind ausgezehrt, am Rande der Agonie, körperlich und mental vom täglichen Überlebenskampf vollkommen erschöpft. Die Hilfsorganisationen sind an der Grenze dessen angelangt, was ihnen möglich und zuzumuten ist. Nur ein Friede, wenigstens ein Waffenstillstand, kann die Katastrophe aufhalten.
Ich konnte damals der jungen Frau in Srebrenica keine Antwort geben. Ich kann es immer noch nicht. Ich weiß nur: Wir versuchen zu helfen.
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