: ... und sterben
Eine Hommage an die Metropole Nigerias ■ Von Niyi Osundare
Eko Akete ile, ogbon, Arodede maa ja o, A romi sa legbe legbe ... Lagos, Haus der Weisheit, prekär stehend, ohne zu kippen, endlos dahinfließendes Wasser ... Dieser alte populäre Song liefert ein treffendes ontologisches Bild von Lagos, dem kommerziellen und sozialen Nervenzentrum Nigerias. Lagos ist eine fast unglaubliche Kombination von Mythos und Realität, esoterischer Einheimischkeit und importierter Entfremdung – eine Stadt, wo Zinkblechhütten mit Fensterrahmen aus Packpapier im Betonschatten moderner Wolkenkratzer zittern, wo Tränen und Lachen wie Vulkaneruptionen aufwallen und miteinander kämpfen, bevor sie im Bauch des Meeres eine unruhige Ehe schließen.
Das Meer ist Lagos, Lagos ist das Meer. Der Atlantik war es, der die ersten Bootsansammlungen landeinwärts brachte. Wie Adam den Dingen einen Namen gab, so wurde Lagos benannt: Die Stadt der Lagunen. Aber wie alles Afrikanische hat auch diese Stadt gelernt, eine doppelte Last zu tragen, und wenn sie kann, trägt sie ihren Doppelnamen mit doppelter Fertigkeit. „Lagos“ lautet der Name, den sie bei einer fremden Taufe erhielt; „Eko“ spiegelt die tiefverwurzelte, authentische afrikanische Identität. Lagos – das ist Politik, Welthandel; Eko ist das Ungewisse, das kaum zu ermessende Eigene. Lagos mißt die Küstenlinie; Eko erstreckt sich aus den Tiefen eines feuchten Abgrunds. Man kann Lagos hassen und vom Charme Ekos hoffnungslos in Besitz genommen werden. Man könnte sich sogar fragen, ob die beiden Namen wirklich denselben Ort beschreiben.
Denn während Lagos aufgrund seiner Namensgebung die meiste Zeit anonym bleibt, einfach eine weitere Metropole voller quietschender Autos und ruheloser Aufzüge, eine wilde Ansammlung von Dächern in einem endlosen Kampf mit der Silhouette der Wolkenkratzer, ist Eko das Produkt einer zielgerichteten, fast religiösen Einzigartigkeit, Synthese von hautnah empfundenen praktischen Vorgängen und zerebralen Sympathien, eben jene enge Gasse des Bewußtseins, in der naturwissenschaftliches Erkennen mit Emotion kollidiert und von der Hebamme namens Nostalgie das Gedächtnis ins Leben gehoben wird. Mit ihren beiden Namen, die auch ihre beiden Schicksale darstellen, wirft die Stadt einen gigantischen Schatten auf Nigeria.
„Lagos sehen und sterben!“ schreit die Aufschrift eines jener arbeitsamen Lastwagen, die auf langen, gefährlichen Straßen Yamwurzeln und Kochbananen aus dem Hinterland in die Metropole bringen, um den unersätttlichen Hunger des städtischen Magens zu stillen und später mit glitzernden Importwaren ins Innere zurückzukehren. In der Vergangenheit, in jenen imperialen Tagen, da hieß es noch: See London And Die – London sehen und sterben. Die stolzen been-tos – die In-London-Gewesenen – unterhielten staunende Zuhausegebliebene mit den Großartigkeiten Londons: der Untergrundzug, der sich wie ein Nager durch die Erde frißt, das seltsame Drama von Trafalgar Square, wo rücksichtslose Tauben mit imperialer Verachtung auf Menschenköpfe kacken. Die wachsende Familiarität dämpfte die Magie Londons, deshalb wandelte sich der Ort der Bewunderung: See Paris And Die. Stadt der geschrubbten, mit Weingirlanden bewachsenen Straßen. Stadt der feinen Manieren, wo die Sprache mit der Unfehlbarkeit von Champagner aus feinen Mündern perlt. Sich irgendwie der imperialen Grandeur Londons und der methodischen Raffiniertheit Paris' bewußt, glaubte sich Lagos lange Zeit zu ähnlichen Wundern fähig. Mit dem Tinubu- Platz versuchte man, Trafalgar Square zu imitieren, doch die Fontänen trockneten zusammen mit der Unabhängigkeitseuphorie aus, und die Tauben verschwanden spurlos.
Immer gibt es etwas in diesem Tor zur Welt
See Lagos And Die. Der Spruch ist gleichermaßen selbsterhöhend wie gänsehaut-eiskaltapokalyptisch. Zugleich eine Einladung zu herrlichen Möglichkeiten und eine Vorwarnung vor dunklen, tödlichen Schatten. Viele sehen in der Tat Lagos – und sterben.
In diesem Tor zur Welt gibt es stets etwas, das Staunen erregt. Die atemberaubenden Brücken und Autobahn-Kleeblätter; das hektische, enge Handelszentrum an der Marina, an der praktisch jeder Multi der Welt eine eifersüchtig gehütete Schaubude besitzt; die Ameisenhaufen ähnelnden Märkte von Jankaka und Oyingbo, deren furchterweckender Ruhm in Liedern und Sprichwörtern verdichtet worden ist; das Festival der Eyo-Maskerade und der nordische Bart der Plastik-Nikolause. Und all dies wird ergänzt durch den einmaligen kosmopolitischen Stolz der Stadt, ihre ethnische und kulturelle Heterogenität, den kreolisierten Umgang der Menschen miteinander. Lagos ist keine Stadt für jeden. Aber es ist jedermanns Stadt. Im vertikalen Mosaik von Lagos grenzt das vornehme Ikoyi an die futuristische Architektur von Victoria Island, und beide sind mehrere Jahrhunderte und viele Bankkonten entfernt von Ajegunle, Mushin und den anderen Slums, wo es keine Lebensalternative gibt als Gewaltkriminalität. Ungeachtet mächtiger Dämme aus Beton, fließt Lagos weiter mit der Endlosigkeit seiner Gewässer. – Diese Gewässer sind das Herz seiner magischen Anziehung, die Grundlage seiner Macht. Wir alle wissen – nur Uneingeweihte können sich Unwissenheit leisten –, daß Meerjungfrauen ihre Fischschwänze gegen Beine austauschen, wenn sie auf den Sand der Strände gelangen und in die Straßen trippeln, so daß junge Männer in versteinerter Bewunderung starren, während ihre Mütter die Zügel anziehen, stets der Gefahr bewußt, Fische als Schwiegertöchter zu haben. Und dann gibt es diese Seegeister, die bei Nacht spiralhaft aus der Tiefe auftauchen, sich im Sattel der Woge niederlassen, in Richtung Strand galoppieren, ihre Körper in der silbrigen Intensität des Halbmondes gebadet. Wenn Sie sie in den Straßen sehen, in weißes Kaliko gekleidet mit Schuhen aus Krokodilleder, leicht daherschreitend, ihre Konsonanten öliger als ihre Vokale, dann warten Sie besser nicht, bis man Ihnen mitteilt, die Dämonen der Untiefen seien unterwegs. Knien Sie nieder und erbitten Sie einfach amphibische Segenswünsche.
Das Meer ist Lagos. Als Lagos jüngst seinen Status als administrative Hauptstadt Nigerias verlor, waren die Lagosianer schnell mit der Frage bei der Hand: Sie mögen Lagos die Hauptstadt wegnehmen – aber können sie das Meer wegnehmen?
Wird sie nicht regelmäßig von Fiktion genährt, verblaßt die Realität und stirbt. Lagos weiß das ganz genau, obwohl die Stadt nie so recht weiß, wo die Wirklichkeit aufhört und wo die Fiktion übernimmt. So ist die Wirklichkeit in den Augen der Landbewohner ebenso wundersam wie die Fiktion. Lagos ist Traumland und zugleich die Wurzel allen Übels. Ländliche Erzählungen, Lieder und Sprichwörter schwappen nur so über von den Wundern dieser Stadt, eine Stadt, in der alles passiert – wenn man etwas nicht in Lagos findet, dann nirgends in Nigeria. Die verrücktesten, extravagantesten Verhaltensweisen stoßen auf Toleranz, ja Akzeptanz, wenn die Menschen erst einmal erfahren, daß „es in Lagos so gemacht wird“. Schneider, Friseure, Maurer, Schreiner, Musiker und andere suchen Bewunderung, indem sie darauf bestehen, daß ihre Reklameschilder die Aufschrift tragen: Lagos Train – in Lagos trainiert. Es ist jene Stadt, in der die Autos stets auf der Überholspur fahren, in der ein Morgen-Millionär bereits mittags seinen Reichtum verspielt haben mag, um gegen Sonnenuntergang in ein beschämendes Grab zu kriechen. Im frugalen Denken des Dorfes ist Lagos ein Höllenloch der Verschwendung, in der das links verdiente Geld gleich rechts wieder verdunstet. Owo Eko lo ngbe, heißt es in einem Song: Geld, das man in Lagos macht, verläßt Lagos nie. – Wenn denn Lagos ein die Fortüne zerstörendes, Geld verschlingendes Monster mit tausend Mäulern ist, dann ist Sisi Ekó die Lagos-Lady, das unersättlichste aller Mäuler, eine aufreizende, verhexende Herumhängende, gefeiert und verdammt in unzähligen Songs. In einer höchstgradig patriarchalischen Sichtweise wird die Frau auf ein Teil des Lagoser Problems reduziert: Sisi Ekó, dick mit Lippenstift bemalt, mit langen Fingernägeln bestückt, sparsamst bekleidet, mit großer Perücke und dünnen Absätzen; sie ist die Ausgeburt der Sündhaftigkeit, hinterhältig und kalkulierend, eine erfahrene Trickserin, deren Job die Beraubung der Männer ist.
Auf Neulinge mag Lagos wie ein Alptraum wirken
Lagos ist ein Instant-Theater mit einer flexiblen Bühne und einem Skript, das sich ständig selbst weiterschreibt, mit dem Atlantischen Ozean als Rundhorizont. Die Schauspieler und Schauspielerinnen bilden ihr eigenes Publikum, sie lachen über ihre eigenen Witze und weinen über ihre eigenen Sorgen. Auf Menschen, die Lagos nicht kennen, mag Lagos wie ein Alptraum wirken, in dem Menschen und Dinge ständig unruhig daherrennen – ins Nichts. Die Stadt gibt, aber sie nimmt auch.
Wo sonst finden Sie, daß der Gesang eines Bettlers sich gleichsam in den Klangteppich einer Soiree aus Juju, Highlife, Cha-Cha- Cha, Reggae, Calypso hineinwebt, der mit 1.000-Watt-Lautsprechern bis ins Geschäftszentrum hineinschwappt? Wo sonst erfahren Sie die erfindungsreichen Frechheiten der agberos, dieser jugendlichen Busbahnhof-Schlepper? Die schuhlose Armee der Arbeitslosen, die mit eselsohrigen Diplompapieren wie mit abgelaufenen Talismanen um Arbeit wedeln? Und um es auf göttliche Weise klarzumachen: Dies ist eine Stadt, in der Gott viele Namen hat, obwohl ein tiefer nativistischer Impuls manchmal die Eifersucht der importierten Götter zähmt. Und dann die nahezu endlose Energie dieser Stadt, in der alles nur Denkbare stattfindet, ohne daß es immer auch tatsächlich passiert. Wo überfüllte Straßen an einer Sackgasse am Atlantik enden, in der der Reisende sein Schicksal findet, indem er es verliert. Diese ach-so-süße, ach-so-bittere Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen